Flucht übers Watt
Sonne durch. Zwischen den Reetdächern hindurch war dann für einen Moment das gleißend leuchtende Wattenmeer vor einem tiefdunklen Himmel über Föhr und den Halligen zu sehen. Auf der Fähre hatte sich Harry aus dem Gastgeberverzeichnis eine hübsche kleine Pension herausgesucht. Das alte Friesenhaus war zumindest ansprechend fotografiert. Aber auch das abgebildete Zimmer mit den hellen Holzmöbeln wirkte recht freundlich, zumindest nicht allzu verplüscht.
»Die Zimmer sind alle weg«, sagte die junge Frau, die ganz anders aussah, als er sich eine Amrumer Pensionswirtin vorstellte. Sie sprach keinen friesischen, nicht einmal einen norddeutschen Dialekt.
»Grade vor fünf Minuten hab ich auch die kleine Ferienwohnung an den Herrn hier vergeben.«
In dem Gast, der sich grußlos an ihnen vorbeizwängte und sein Gepäck die schmale Holztreppe hinaufwuchtete, erkannte er den Mann mit dem exakt geschnittenen Bart und der gelben Brille wieder, der ihm schon auf der Fähre den letzten Fensterplatz weggeschnappt hatte.
»Aber Meret Boysen nebenan müsste noch etwas frei haben.«
Die »Nordseeperle« zwei Häuser weiter war auch |52| ein altes Reetdachhaus, nicht weiß, sondern blutrot gestrichen. Und Frau Boysen sah tatsächlich wie eine Amrumer Pensionswirtin aus. Sie trug eine traditionell blau-weiß karierte Kittelschürze, hatte einen geflochtenen Haarkranz, der akkurat um den eiförmigen Kopf gelegt war, und guckte streng aus ihren wässrig graublauen Augen.
»Für wie lange wollen Sie das Zimmer denn?«
»S-s-soso genau weiß ich es noch nicht«, stotterte Harry. »Aber sicher mehrere Tage.«
»Denn eigentlich vermiete ich nur wochenweise.«
Harry stand etwas unbeholfen mit der Neckermann-Tüte unter dem Arm in dem niedrigen Eingang mit der grau und weiß lackierten Tür neben der verblühten Kletterrose.
»Aber ein Zimmer hätte ich wohl noch. Is dat für eine Person?«
Harry nickte.
»Ich hab aber nur Doppelzimmer«, sagte die Wirtin. »Is ’n schönes Zimmer. Wollen Sie’s mal sehen?«
Das Zimmer lag im ersten Stock. Frau Boysen öffnete die mit unlackiertem Holz furnierte Tür, die vermutlich vor gar nicht langer Zeit statt der schiefen alten Tür in das Friesenhaus eingebaut worden war. Alle Türen hatten in Augenhöhe ein kleines Keramikschild mit den Zimmernamen: »Lachmöwe«, »Seeschwalbe«, »Austernfischer«. Harry wurde das Zimmer »Eiderente« zugewiesen. Sofort schlug ihm ein leicht muffiger Geruch entgegen, der sich mit dem Waschmittelduft der Handtücher mischte. Die Tapete hatte ein Fachwerkmuster. Der Boden war mit einem in verschiedenen |53| Brauntönen gesprenkelten Teppich ausgelegt. An jeder Seite des stattlichen Doppelbettes, das fast den ganzen Raum ausfüllte, lagen darauf noch einmal langhaarige Läufer in Hellbeige. Am Fußende stand eine für das kleine Zimmer gigantisch große Schrankwand in Holzimitation. Das Gaubenfenster im Reetdach war mit gemusterten, gerafften Gardinen halb verhängt. Dahinter ließ sich das Wattenmeer erahnen.
»Schöner Blick«, sagte Harry.
»Sie ham Glück, dass dat Zimmer gemacht ist. Normalerweise kommen die neuen Gäste Sonnabend mit der Nachmittagsfähre.«
Harry lächelte bemüht. Langsam bekam er Zweifel, ob er nicht doch lieber auf dem Festland hätte untertauchen sollen statt in diesem miefigen Pensionszimmer mit den Langhaarläufern.
»Frühstück is denn von acht bis neun.«
Der Blick über mehrere Reetdächer auf das Wattenmeer nach Föhr hinüber war wirklich wunderschön. Aber das Zimmer als solches war grausam. Harry nahm es trotzdem. Er hatte jetzt keine Lust, noch lange herumzusuchen.
Es war schon höchst ärgerlich, dass ihm nebenan von diesem Typen mit dem Bart das letzte Zimmer vor der Nase weggeschnappt worden war. Das Haus hatte wirklich nett ausgesehen. In der »Nordseeperle« dagegen hörte der altfriesische Stil gleich hinter der Haustür auf. Holzböden und Treppe hatten bräunlich geflammten Fliesen weichen müssen. Im Treppenhaus auf der wie in einem griechischen Restaurant rau verspachtelten Wand hingen dicht gedrängt ein verblichener |54| Sonnenuntergang über dem Meer, mehrere Robbenfotos, das Halbrelief eines Krabbenkutters, ein aus Wäscheklammern gebastelter Leuchtturm und eine schmiedeeiserne Möwe im Flug mit integriertem Barometer.
»Sagen Sie mal, haben Sie denn gar kein Gepäck?« Meret Boysen guckte misstrauisch. Harry versuchte seine Unsicherheit zu verbergen.
»Dat hab ich auch noch nie erlebt,
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