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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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dass hier einer nur mit’m, wat is’n dat überhaupt   ... «, sie starrte auf die Plastiktüte, »mit’n Neckermann-Büdel ankommt.«
    Daran hatte Harry nicht gedacht, dass er ohne das übliche Gepäck auffallen würde.
    »Meine Tasche is mir auf dem Schiffg-g-geklaut worden«, log er und kam dabei wieder ein wenig ins Stottern.
    »Sach mal, dat gibt’s doch gar nich. Eigentlich kommt auf der Fähre nichts weg«, sagte Frau Boysen. Und Harry hatte den deutlichen Eindruck, dass sie ihm nicht glaubte.
    Besonders wohl fühlte er sich hier nicht. Nicht nur wegen des scheußlichen Zimmers, auch wegen der misstrauischen Wirtin mit dem strengen Haarkranz. Aber wenn er das Zimmer nicht nahm, dachte Harry, machte er sich erst recht verdächtig, und das wollte er auf keinen Fall riskieren.
    Zunächst brauchte er ein paar neue Klamotten, Unterhosen und ein Hemd zum Wechseln zumindest. Die Bilder musste er im Zimmer zurücklassen. Er konnte schlecht die ganze Zeit mit seiner Neckermann-Tüte |55| unter dem Arm herumlaufen. Aber wo sollte er die Bilder am besten verstecken? Vorübergehend unter eine der Bettdecken legen? Konnte er sich sicher sein, dass die penible Wirtin nicht noch mal die Betten aufschlug oder neu bezog? Auch die wackelige Rückwand des durchgelegenen Doppelbettes erschien ihm wenig geeignet.
    Erst einmal schloss er die Bilder in dem Schrank mit dem »Holzimi«-Furnier ein und nahm den Schlüssel einfach mit. Auch den Zimmerschlüssel mit dem dicken Holzanhänger und der handgemalten Aufschrift »Eiderente« steckte er in seinen Anorak. In die Hosentasche passte der eiförmige Anhänger schlecht, besonders wegen des Gummirings an der dicksten Stelle in der Mitte.
    »Kurkarte brauchen Sie wohl nich, Herr   ... rähräh?« Die Wirtin guckte aus ihrer Küche heraus, als Harry die Treppe herunterkam und neben dem Möwenbarometer stehen blieb.
    »Meinetwegen können wir uns das mit der Kurtaxe sparen. Denn brauchen Sie auch nichts auszufüllen, Herr   ... Ich weiß Ihr’n Namen gar nich.«
    »H-heide«, stotterte Harry und er wusste gar nicht recht, warum er spontan einen falschen Namen angab. Aber irgendwie glaubte er, seine wahre Identität verheimlichen zu müssen. Vielleicht wollte er ja tatsächlich sein bisheriges Leben hinter sich lassen.
    »Heide? Wie die Stadt?«
    »Genau«, sagte Harry, und er fand, dass er dabei überzeugend klang. Schließlich hatte er ja einen Städtenamen. Wenn auch einen anderen.
    |56| »Wo kann man denn hier am besten Fisch essen?«, fragte Harry, vor allem, um sich ein bisschen locker zu geben.
    »Am besten bei mir«, sagte Frau Boysen, ohne irgendeinen Zweifel aufkommen zu lassen und guckte Harry ernst mit großen Augen an.
    »Aber den Fisch müssen sie morgens selbst holen am Kutter in Steenodde. Ich komm da morgens nich dazu, wegen Frühstück und so.«
    »Frischer Fisch vom Kutter. Das klingt doch gut.« Harry wurde langsam sicherer gegenüber der Wirtin.
    »Nehmen Sie Kaffee morgens?«, fragte sie. »Und Wurst essen Sie doch auch, oder.«
    Jetzt gelang es Harry sogar, sie nickend anzulächeln.
    »Ja, ich frag lieber gleich. Heutzutage muss man das fragen. Ja, is so. Unsere Frau, äh, Scheuermann   ... Dings, die isst praktisch gar nichts. Na ja, werden Sie ja noch kennenlernen.«
     
    Harry lieh sich ein Hollandrad mit drei Gängen, von denen nur der dritte funktionierte, und fuhr wieder nach Wittdün. In einem Bekleidungsgeschäft, dessen Angebot fast ausschließlich aus Öljacken und den heruntergesetzten Badehosen des vergangenen Sommers bestand, wurde er wieder mit einem langgezogenen »Moin« begrüßt. Er entdeckte dann doch ein paar T-Shirts , Boxershorts, ein kariertes Sporthemd und einen Troyer, wie er ihn als Jugendlicher einmal getragen hatte. Andere Pullover führte der Laden nicht. Er behielt den dunkelblauen Troyer gleich an und ließ sich seinen schwarzen Rollkragenpullover |57| einpacken, wozu die tranige Verkäuferin eine Ewigkeit brauchte.
    Er zog sich den Reißverschluss bis unters Kinn hoch und radelte am Watt zurück. Auf dem Weg kam ihm ein Mann im Fischerhemd mit einem Wassereimer voller Austern entgegen. Im Seezeichenhafen wurde gerade ein Boot eingelagert. Die Segler brachten langsam ihre Jollen vor den Herbststürmen ins Trockene. Als er den kleinen Hafen von Steenodde erreichte, schien die Sonne. Über den Halligen türmte sich ein dunkelvioletter Wolkenberg und ein Stück daneben über Föhr hellrosa von der Sonne beschienene

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