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Flucht übers Watt

Titel: Flucht übers Watt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Nordwesten wehte ihn schon wieder ein Regenschauer an. Mit jedem Meter wurde sein neuer Troyer immer nasser, zunächst nur auf einer Seite. Als der Weg sich in einer kleinen Biegung vom Watt entfernte, am Haus von Katja Epstein und am Schullandheim vorbei, kam der heftiger werdende Regen dann richtig von vorn.
    Zurück in der »Nordseeperle« war er klitschnass. Die schwarze Jeans klebte auf den Oberschenkeln und der Troyer roch feucht und neu nach Chemie. Im Flur kam ihm eine Frau in Gesundheitssandalen und einem irgendwie afrikanisch anmutenden, hüftlangen Gewand entgegen, eine seltsame Erscheinung in dem Flur mit dem Krabbenkutterrelief und der schmiedeeisernen Möwe. Sie grüßte leicht abwesend, aber interessiert.
    Eigentlich wollte sich Harry nur ein Stündchen hinlegen und abends noch einmal zum Essen oder auf ein |61| Bier losgehen. Aber Bier, Sauerfleisch und der Nordseeregen hatten ihn müde gemacht. Er überzeugte sich noch, dass seine Bilder wohlbehalten im Schrank lagen. Dann schliefer sofort ein, nachdem er sich die nassen Klamotten ausgezogen und sie auf das freie Bett geworfen hatte. Er schlief den Abend und die ganze Nacht durch wie ein Stein und wachte erst am nächsten Morgen wieder auf. Am ersten Tag ist jeder vom Reizklima erschlagen, besonders wenn er die Nacht zuvor mit geklauten Bildern unter dem Arm erst vor einer dauergewellten Putzfrau und dann vor der Polizei geflüchtet ist.

5
    Im Morgengrauen schreckte Harry aus dem Schlaf hoch und wusste einen Moment nicht, wo er war. Er hatte tief und traumlos geschlafen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Aber der fast wolkenlose Himmel über dem Wattenmeer war dunkelrot gefärbt. Durch das Gaubenfenster, deren Gardinen er so weit wie möglich zur Seite geschoben hatte, waren am Horizont trotz der Dämmerung ganz klar die Silhouetten von Föhr und den Halligen zu erkennen, und darin einige Lichtpunkte in der Morgendämmerung. Die Klamotten neben ihm auf dem Bett waren immer noch klamm. Die Ereignisse des Vortages holten Harry sofort wieder ein. Er malte sich die Schlagzeilen der Zeitungen aus, die heute über den Nolde-Raub berichten würden. |62| Schlagzeilen, die schon gedruckt waren, aber die Zeitungen waren sicherlich noch nicht in den Kiosken auf Amrum ausgeliefert.
    Harry hängte seine Klamotten über den lauwarmen Heizkörper. In dem erleuchteten Fenster des Reetdachhauses gegenüber stand eine junge Frau in einem weiten Männerunterhemd mit einer wild zerzausten blonden Mähne. Als sie Harry bemerkte, drehte sie sich weg. Er schlich sich zum Klo schräg gegenüber im Flur, das neben der »Eiderente« wohl auch von den Zimmern »Seeschwalbe« und »Austernfischer« benutzt wurde. Zurück im Zimmer sah er kurz nach den Bildern im Schrank. Dann schliefer wieder ein und wurde im Traum von der Putzfrau aus dem Nolde-Museum verfolgt, die ihm mit aufgerissenen Augen hinter ihrer Brille immer wieder im Weg stand und lautstarke Vorhaltungen machte, dass er den gerade gewischten Boden betreten hatte.
    Obwohl Harry für seine Verhältnisse recht früh aufgestanden war, erschien er im Frühstückszimmer der »Nordseeperle« als Letzter. Er fühlte sich allein, aber gleichzeitig von allen beobachtet, als würde er eine Bühne betreten. Alle Blicke richteten sich sofort auf ihn, als er sich mit einem gemurmelten »Morgen« an den Tisch mit dem einzelnen noch unbenutzten Gedeck setzte. Es waren ohnehin nur drei Tische besetzt. Auch in der »Nordseeperle« war bereits Nebensaison.
    Am Fensterplatz saßen ein unglaublich dicker, alterslos wirkender Mann, der aber wahrscheinlich kaum älter als Harry war, und seine Mutter.
    |63| Der Dicke guckte hoch und sagte demonstrativ friesisch: »Moin.«
    An dem anderen Tisch, Harry gegenüber, saß die Frau, der er gestern im Flur der Pension begegnet war: Silva Scheuermann-Heinrich. Sie stierte ihn unverfroren durch ihre Brille mit dem irisierend roten Gestell an. Sie war vielleicht zehn Jahre älter als er, auf der dringlichen Suche nach neuen spirituellen Erkenntnissen und wahrscheinlich auch nach einem Mann. Heute Morgen trug sie ein paar Holzperlen im Haar. Ihr buntes wallendes Shirt wirkte jetzt eher karibisch. Oder doch afrikanisch? Sobald Harry hinsah, trafen sich ihre Blicke. Er fragte sich, was die anderen wohl über ihn denken würden. Einer wie er würde doch nicht allein Urlaub in einer Pension wie der »Nordseeperle« machen. Müsste er nicht gleich Verdacht erregen? Aber vielleicht dachten sie auch,

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