Flucht übers Watt
Fußgängerzone. Nur vor den Schaukästen des kleinen Inselkinos standen ein paar Leute.
Zwei Paare in Öljacken mit kleinen Kindern drehten sich sofort interessiert um. Hans-Peter Wiese und seine Mutter, einen Schaukasten weiter, waren so sehr in das Plakat von ›Indiana Jones und der letzte Kreuzzug‹ vertieft, dass sie die reale Verfolgungsjagd fast |275| verpasst hätten. Aus den Augenwinkeln sah Harry gerade noch, wie ihm Mutter Wiese durch ihre »verkehrte« Brille und der dicke Hans-Peter mit offenem Mund und einem Kuchenstück in der Hand fassungslos hinterherstarrten.
Kopflos hetzte Harry durch die kleinen Nebengassen. Tadsen war ihm jetzt dicht auf den Fersen. Bevor der »Jetta« ihn erreichte, liefer auf das Kinderheim zu, das zwischen den Norddorfer Backsteinhäusern mit seinem gewaltigen Dach hoch aufragte. Hinter sich hörte er den Polizeiwagen mit quietschenden Reifen bremsen.
Vor einem Nebeneingang stand ein Transporter, der offenbar gerade etwas anlieferte. Eine Tür zu den Wirtschaftsräumen stand offen. Harry lief hinein und befand sich mitten in einer Küche mit riesigen Töpfen. Vor denen stand ein Mann in Kochkleidung, der sich erst umdrehte, als Harry den Raum durch eine andere Tür schon fast wieder verlassen hatte. Er guckte nicht weiter erstaunt, sondern nickte ihm nur kurz zu. Aus einem entfernten Raum des Hauses war Musik zu hören, kunterbunt durcheinandersingende Kinderstimmen. Von der Küche kam Harry durch mehrere Gänge, an deren Decken Rohre entlangliefen, an Vorratsräumen vorbei zu einer Treppe, die nach oben führte. Jetzt hörte er die Kinderstimmen deutlich lauter. Harry kannte das Lied aus seiner Kindheit:
Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren,
müssen Männer mit Bärten sein.
Jan und Hein und Klaas und Pit,
die haben Bärte, die fahren mit.
|276| Der Kinderchor klang ziemlich chaotisch. Er wurde von geklampfter Gitarre und einer klaren männlichen Stimme begleitet.
»Alle, die öligen Zwieback lieben, müssen Männer mit Bärten sein ... «
»Igitt, öliger Zwieback«, rief ein Kind dazwischen.
Harry lief durch das Gebäude. Es war wie ausgestorben. Außer dem Koch im Keller waren offensichtlich alle anderen mit »Klaas und Pit auf Kaperfahrt«. Aber er musste natürlich damit rechnen, dass hinter jeder Ecke plötzlich Hark Tadsen auftauchen könnte. Fieberhaft suchte er nach einem Versteck, wo er sich verkriechen konnte. Der Gesang hatte aufgehört. Jetzt war eine Männerstimme zu hören. Dazwischen riefen die Kinder im Chor »Jaa!« oder »Hier!«. Es klang so ähnlich wie im Kasperletheater.
Er betrat einen fensterlosen Raum, in dem Dutzende kleiner Gummistiefel, Plastikkörbe mit Tischtennisschlägern und anderes Sportgerät in Regalen standen und Öljacken an den Haken hingen. Harry lauschte. Jetzt konnte er die Stimme des Mannes verstehen. Er erzählte offenbar eine zu dem Kaperfahrtlied passende Piratengeschichte.
» ... als er klein war, wurde Pidder von allen gehänselt. Später wurde Pidder Lyng ein berühmter Pirat, der mit seiner Freibeuterflotte in der Nordsee sein Unwesen trieb. Aber Pidder Lyng kämpfte auch für die Freiheit der Leute auf den Inseln ... «
Der Öljackenraum bot kein Versteck. Aber es gab noch eine weitere kleinere Tür. Es sah aus wie eine kleine Nebenkammer, dachte Harry. Er öffnete die |277| Tür – und stand vor einem Mann, der mit einer Gitarre auf einem Stuhl saß.
» ... seine erbeuteten Schätze hatte er in einem sagenhaften Seeräubernest in Hörnum auf Sylt versteckt.«
Der Typ, der nicht älter war als er, trug eine schwarze Augenklappe und ein rotes Piratentuch um den Kopf. Harry stand direkt neben ihm auf einer kleinen Bühne. Die Kinder vor ihm in dem Saal begannen sofort lauthals zu johlen.
»Ja! Pidder Lyng, da ist er.«
»Ach Quatsch«, rief ein anderer. »Guck doch hin. Der sieht überhaupt nicht aus wie ein Pirat!«
»Sieht er doch! Ganz schwarze Sachen hat er an.«
Harry stand wie erstarrt da.
»Ob uns Pidder Lyng wohl verrät, wo er seinen Schatz versteckt hat? Was meint ihr, Kinder?«, fragte der Pirat mit der Gitarre. Er sah Harry dabei ganz selbstverständlich an, als wäre sein Auftritt vorher abgesprochen. »Sollen wir ihn mal fragen?«
»Jaa, jaa!« Sofort brach wieder ein Gejohle aus.
In diesem Moment öffnete sich eine Tür der Bühne gegenüber. Polternd stürmte Hark Tadsen in seiner zu kleinen Polizeiuniform in den Saal.
»Da ist er. Haltet ihn«, rief der
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