Flucht übers Watt
er vor der »Nordseeperle« ein Auto stehen. Es war nicht der Polizeiwagen und auch nicht der »Scorpio«, sondern ein anderer Wagen mit N F-Kennzeichen . Harry kam das komisch vor. Die Gäste waren alle ohne Auto da, und Meret Boysen hatte auch keines. Er fuhr zügig am Haus vorbei. Anzuhalten und hineinzugehen mochte er nicht riskieren. Vielleicht hatte Frau Boysen völlig harmlosen Besuch. Aber wer weiß, ob ihn drinnen nicht doch irgendein Hilfssheriff von der Insel erwartete |266| . Langsam wurde die Sache eng für ihn. Ob er seine Fähre überhaupt noch bekommen würde? Und war es überhaupt schlau, die Fähre zu nehmen? Wenn sie nach ihm suchten, und das war nach der Verfolgung mit dem Trecker ganz offensichtlich, dann würden sie ganz sicher auch jemanden am Fähranleger postieren.
Harry fühlte Panik aufsteigen. Er sah seine Chancen schwinden, noch an die ›Feriengäste‹ heranzukommen. Und auch die ›Ungemalten Bilder‹ in seiner Neckermann-Tüte wollte er lieber loswerden. Das Kuvert hatte er vorsichtshalber ja bereits adressiert. Er fuhr zu dem Briefkasten vor dem Haus von Peer Schmidt, der deutschen Stimme von Belmondo in ›Außer Atem‹. Das passte doch irgendwie. Der von Belmondo gespielte Michel in dem alten Godard-Film wurde schließlich auch von der Polizei gejagt. Harrys Blick fiel auf die geschwungenen Buchstaben »P« und »S« über dem Eingang. Richtig, das hatte er vergessen. Er riss ein Stück unbedruckten Zeitungsrand aus dem ›Inselboten‹ aus, in den die Aquarelle noch einmal eingeschlagen waren.
Harry wusste nicht recht, was er schreiben sollte. So schrieb er nur: »P. S.: Call you soon. Harry Oldenburg.«
Er schob die Bilder in eine geknickte Doppelseite des ›Inselboten‹ und steckte das Ganze in den bereits frankierten Umschlag. Als er gerade die Gummierung anleckte, sah er ein Stück weiter, in Höhe der Bäckerei Tadsens Polizeiwagen in den Waasterstigh einbiegen. Der Nebeler Polizist hatte ihn augenblicklich gesichtet. Der Auspuff des »Jetta« röhrte auf. Hark Tadsen |267| trat aufs Gas. Harry warf blitzschnell, ohne dass der Polizist es sah, den Briefin den Kasten. Er schwang sich auf das Fahrrad und nahm den ersten Sandweg zum Watt. So kräftig er konnte trat er in die Pedale. Inzwischen hatte Tadsen Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet. Dazu hat er wahrscheinlich nicht oft Gelegenheit, dachte Harry, während er panisch strampelte. Irgendwie fand er es reichlich übertrieben, dass er jetzt mit Blaulicht über die Insel gejagt wurde.
Als er sich umdrehte, sah er Tadsen gerade in den Sandweg einbiegen. Hier konnte er mit dem Auto noch fahren. Aber die Salzwiesen dahinter waren, wenn überhaupt, nur mit dem Rad befahrbar. Harry konnte schwer einschätzen, ob er es bis dorthin schaffen oder der Polizeiwagen ihn vorher einholen würde. Der »Jetta« röhrte mit hoher Drehzahl. Die Reifen knirschten auf dem Sand und spritzten durch die Pfützen.
Der Wagen kam immer näher. Jetzt konnte er den Polizisten gut erkennen, der massig hinter dem Steuer des Volkswagens saß. Er musste den Kopf etwas zur Seite neigen, um überhaupt durch die Frontscheibe gucken zu können. Er war keine dreißig Meter hinter ihm. Doch jetzt hatte Harry den rettenden Feldweg erreicht. Er raste mit dem Rad auf einer der beiden erdigen Spuren, die unregelmäßig durch höheres Gras führten, in die Wiese hinein. Der matschige Boden und mehrere Pfützen bremsten seine Fahrt. Als Harry sich umdrehte, sah er zu seinem Entsetzen, dass auch Tadsen im Auto den Wiesenweg hinterherkam. Harry strampelte weiter und kam dabei ins Straucheln. Fast |268| fiel er hin. Aber jetzt hatte sich auch der »Jetta« festgefahren. Hinter sich hörte er das Heulen des Motors und das Summen durchdrehender Reifen. Als er den Fußweg am Watt erreicht hatte, sah er Hark Tadsen neben seinem Wagen stehen. Erst guckte er Harry hinterher und dann schlug er ärgerlich mit seiner großen flachen Hand auf das Wagendach.
»Wart man ab!«, schrie der Dorfbulle ihm hinterher. »Mit euch vom Festland werden wir hier noch lange fertig!« So munter hatte Harry ihn noch gar nicht erlebt. Und für seine Verhältnisse sprach er auf einmal auch erstaunlich schnell.
Im Gegensatz zu seinem Rad funktionierten an Silvas Hollandrad alle drei Gänge. Das war ganz nützlich, wenn er auf dem durchgeweichten Weg im Schlamm und in Pfützen hängenzubleiben drohte. Allerdings war der Sattel für ihn viel zu niedrig eingestellt, sodass er
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