Flügel aus Asche
mischte sich die beunruhigende Empfindung, dass er bisher nur einen Teil von ihm gekannt hatte. »Wie lange tust du das schon?«
Rasmi machte eine vage Handbewegung, die sein Unbehagen verriet. »Einige Jahre. Aber ich hätte dich nie mit hineingezogen, das musst du mir glauben.«
Einige Jahre? So lange warst du also nicht aufrichtig zu mir?
Der Vorwurf lag Adeen auf der Zunge, doch er schluckte ihn hinunter. Rasmi war seiner Überzeugung gefolgt und hatte sein Leben riskiert, und er selbst ließ sich von Charral die Rakashwurzeln zertreten und fürchtete sich vor dem nächsten Tag. Er hob den Kopf und sah dem Fremden ins Gesicht. Rasmi schien zu ahnen, was er sagen wollte, denn er packte ihn hart bei der Schulter. »Adeen, sieh mich an! Ich kann dir nicht befehlen, alles zu vergessen, was du gehört hast. Aber wenn du jetzt ja sagst, gibt es kein Zurück mehr. Es wird gefährlich, lebensgefährlich. Du musst dir dessen bewusst sein.«
Adeen erwiderte Rasmis Blick und nickte. Dann sah er den Fremden an. »Was soll ich tun?«
Die Falten auf der Stirn des Mannes glätteten sich ein wenig. »Du triffst die richtige Wahl.«
Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, überrollte die Angst Adeen wie eine Welle. Es war Irrsinn, was konnte er, eine Krähe, schon ausrichten? Einen Moment lang wünschte er sich, er hätte seine Worte wieder zurücknehmen können. Aber da war etwas in ihm, das ihn zwang, tief durchzuatmen und die Panik niederzukämpfen.
»Ich nehme an, wir können auch wieder auf deine Hilfe zählen, Rasmi?«, fragte der Fremde.
»Das habe ich gesagt, und dazu stehe ich. Aber Adeen …«
»Du hast ihn gehört. Seid um die sechste Nachtstunde beim Weißen Bogen. Yoluan wird euch abholen. Du kennst ihn, Rasmi. Alles Weitere erfahrt ihr dann, nur für den Fall …«
Rasmi schüttelte den Kopf. »Das geht zu schnell.«
»Wir haben diese Unternehmung lange geplant. Auch wenn wir ein paar Einzelheiten ändern müssen, es wird funktionieren.« Der Mann sah Rasmi fest in die Augen. »Wir können uns jetzt keine Zweifel leisten. Denk an die Bilder –
du
warst es, der sie als Erster retten wollte.«
Rasmi senkte den Blick und nickte.
»Also bis heute Nacht.«
Mit einem Ruck zog sich der Fremde wieder die Kapuze über den Kopf und wandte sich zur Tür. Adeen gelang es gerade noch, ihn beim Arm zu fassen. »Wartet! Ihr habt mir noch nicht einmal Euren Namen verraten. Wenigstens das seid Ihr mir schuldig.«
Einen Moment lang zögerte der Fremde, dann antwortete er: »Nenn mich Nemiz. Aber je weniger wir voneinander wissen, desto weniger können wir auch an unsere Feinde verraten.«
Gleich darauf war er zur Tür hinaus. Adeen schloss ab, schob den Riegel vor und lauschte, wie der Mann mit unregelmäßigen Schritten die Treppe hinabstieg. Dafür, dass er einen Stock brauchte, trat er erstaunlich leise auf. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass sich seine Welt eben mit einem Schlag so sehr verändert hatte, dass sie nie wieder dieselbe sein würde.
Rasmi war auf den Schemel hinter seinem Tisch gesunken. Dort saß er, das Gesicht in beide Hände gestützt, und starrte auf die buntfleckige Arbeitsfläche hinab. Es schien Adeen fast, als sähe er ihn zum ersten Mal – hatte er immer schon so dürre Finger gehabt? Mit all den feinen Runzeln und dem dünnen weißen Haar sah Rasmi zart und vornehm aus, beinahe zerbrechlich. Seit sich Adeen erinnern konnte, hatte Rasmi ihn beschützt, und er versuchte es sogar jetzt noch.
Er trat zu ihm und wollte ihn umarmen, zögerte dann aber. »Du hättest es mir nicht verheimlichen dürfen.«
»Ich wusste, dass genau das passieren würde, was jetzt eingetreten ist! Adeen, wie konntest du Nemiz nur deine Unterstützung zusagen? Und das auch noch jetzt, wo du verletzt bist! Begreifst du denn nicht, dass du schon morgen tot sein könntest, wenn du … wenn du den Rebellen hilfst?«
»Und du?«
»Ich habe mich dafür entschieden.«
»Ich auch.«
»Nein, Nemiz hat dich überredet! Er kann gut mit Worten umgehen, und er könnte dich davon überzeugen, dass deine Nase grün ist, wenn er es will – nichts gegen ihn, er weiß, wie man Menschen anführt, aber er hat kein Recht, dich da mit hineinzuziehen.«
Rasmis Stimme klang, als sei er den Tränen nahe. Adeen nahm eine seiner Hände und drückte sie, dann ließ er sie los. »Ich habe Glück, dass ich nicht jetzt schon tot bin. Charral …« Er suchte nach Worten, die Rasmi nicht erschrecken würden, und beschloss dann, die Wahrheit
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