Flügel aus Asche
sich glücklich schätzen, dass er ohne die Macht seiner Mutter geboren worden war. Was konnte Schwarz schon Gutes verheißen?
»Du siehst müde aus, Adeen. Leg dich ein wenig hin und versuch zu schlafen, bis es so weit ist. Du kannst mein Bett benutzen, ich werde jetzt ohnehin kein Auge zutun. Ich wecke dich rechtzeitig – ja, ich werde dich wecken, versprochen.«
Trotz aller Aufregung war Adeens Körper schwer von Erschöpfung, und er wusste, dass er später noch seine ganze Kraft brauchen würde. »Ich kann es versuchen. Hast du eine Decke?«
Adeen stieg über die Hürde aus Leinwänden, die die Schlafnische vom Rest des Zimmers abtrennte, streifte seine Schuhe ab und rollte sich auf Rasmis Bett zusammen. Groß und dürr, wie er war, musste er die Beine anziehen, um genügend Platz zu finden. Er wickelte sich in die Decke und starrte mit weit offenen Augen ins Halbdunkel. Noch immer fröstelte er, nur langsam wurden seine Finger und Zehen warm. Er hörte, wie sich Rasmi im Zimmer bewegte, leise die Farbschalen wegräumte und vor sich hin summte, wie er es schon immer getan hatte.
Vor Adeens Augen schienen sich Wirbel aus fleckigem Braun und Grau zu bilden, sie verschmolzen zu Formen, wie sich Rostflecken auf Metall bildeten, und flossen dann wieder auseinander. Zuletzt blieb ein Bild, wie hingesprüht mit Blut oder Tinte: das Schattenbild eines Vogels mit ausgebreiteten Schwingen und aufgerissenem Schnabel. Adeen presste die Augen zu, aber das Bild blieb. Beinahe glaubte er, den Vogel schreien, das Rauschen der mächtigen Schwingen zu hören … ja, er fühlte, wie er sich näherte, ein Sturm aus dunkler Asche, der ihn einhüllte, an ihm zerrte …
Er zuckte heftig zusammen, als plötzlich etwas seine Schulter berührte. Über sich gebeugt sah er Rasmi, der eine Kerze in der Hand hielt.
»Wach auf, Adeen. Wir müssen los.«
Adeen blinzelte in die Flamme. Seine Augen brannten. Hatte er geschlafen? Kurz schien das Bild des Vogels noch um die Kerze herumzutanzen wie aufgewirbelter Staub in einer Windbö, dann verblasste es.
»Ist gut«, murmelte Adeen. »Ich komme.«
3
Verrat
Ü ber ihren Köpfen trieben Wolken dahin, und ab und zu sah Adeen einzelne Sterne aufblitzen. Mit beiden Händen hielt er die Kapuze seiner Robe fest, an der der Wind zerrte. Seine Finger waren schon halb erstarrt, doch die Kälte betäubte zumindest auch den Schmerz in seinen angeschlagenen Rippen. Rasmi neben ihm hatte sich in eine Nische der Hauswand geschoben, die Hände tief in den Taschen vergraben. Obwohl der Wind laut heulte, hörte Adeen ihn mit den Zähnen klappern.
Die Straßen waren leer. In der Dunkelheit bildete der sonst so strahlende Marmor des Weißen Bogens einen verschwommenen hellen Fleck, und Adeen konnte die Reliefs, die ihn überzogen, nur mit den Fingern ertasten: die Darstellung, wie der Herrscher seinen Vorgänger an einen der fliegenden Felsen ketten und in den Himmel aufsteigen ließ, wie in seinem Auftrag in Rashija neue Gebäude errichtet wurden – auch der Weiße Bogen selbst – und wie er Hof hielt, umgeben von seinen Magierwachen und Getreuen. Bei Tageslicht hatte Adeen die Reliefs schon oft betrachtet. Sie waren so präzise, mit scharfen, glatten Formen und voller Menschen mit Gesichtern, die sich nicht voneinander unterschieden. Ganz anders als alle Bilder, die in seinem Kopf wirbelten.
»He! Rasmi?«
Adeen zuckte zusammen und schnellte herum. Der Mann hatte sich so lautlos genähert, dass er ihn nicht bemerkt hatte. Im Dunkel war er beinahe unsichtbar, das schwache Sternenlicht verriet nur, dass er groß und breitschultrig sein musste.
»Yoluan!« Rasmi klang erleichtert. »Du bist spät dran. Ist alles in Ordnung?«
Der Mann hob die Hand. »Ist das der Neue? Adahn oder so?«
»Ja«, sagte Adeen nur. Die Situation war zu ernst, um sich mit Kleinigkeiten aufzuhalten.
»Sie haben schon angefangen. Kaza konnte nicht abwarten und hat das Signal zu früh gegeben. Los, beeilt euch.«
Die tiefe Stimme des Mannes hatte etwas Vertrauenerweckendes, auch wenn ein Geruch nach Skada-Dung von ihm ausging, der Adeen die Nase rümpfen ließ. Während sie ihm durch Gassen, Hinterhöfe und wucherndes Gestrüpp folgten, wies er sie an, was zu tun war. »Ihr müsst in die Lagerhalle rein und die Bilder raustragen, so viele ihr könnt. Vor der Halle wartet ein Wagen. Wenn Nemiz pfeift, verschwinden wir. Wer nicht schnell genug ist, wird zurückgelassen.«
»Was ist mit den Wachen?«, erkundigte sich Rasmi
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