Fluegelschlag
Einhalt gebieten konnte.
Arian blieb allein am Boden zurück. Er sah zornig aus, und als sie seinem Blick folgte, wusste sie, warum. Die Stelle, an der sein dunkler Gegner eben noch ausgestreckt gelegen hatte, war leer. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen. »Zur Hölle …!«
Bevor sie sich fragen konnte, ob dies ein Fluch oder eine Feststellung gewesen war, kam Arian, das blutige Schwert noch immer in der Hand, direkt auf sie zu. In einer anderen Situation hätte Juna seine sinnlichen Bewegungen und diese überirdische Ausstrahlung bestimmt bewundert. Doch je näher er ihr kam, desto mehr fürchtete sie sich vor ihm. Vergeblich suchte sie nach einem Funken Gefühl in seinen Augen, die nachtblau und damit beinahe ebenso furchterregend waren wie die des Dämons wenige Sekunden zuvor. Das war nicht der Mann, den sie kennengelernt hatte. Dies war ein gnadenloser Krieger, und er machte ihr Angst. Doch sie wollte sich nicht einschüchtern lassen.
In diesem Augenblick begriff Juna, dass sie ihre eigenen Dämonen nur besiegen konnte, wenn sie sich ihnen stellte.
Und Arian besaß die Antworten auf Fragen, die sie bereits ihr ganzes Leben lang gequält hatten: Warum war sie anders als andere Menschen? Und warum konnte sie Engel sehen, wenn sie mit ihrer Fähigkeit nichts anfangen durfte? Es war schließlich nicht seine Magie, die sie an der Flucht hinderte, es war der Hunger nach Antworten, der sie stark genug machte, ihrem Schicksal entgegenzutreten. Es gelang ihr sogar, sich zu einem Lächeln zu zwingen. Nur ein ganz leichtes Beben ihrer Unterlippe verriet etwas von ihren wahren Gefühlen.
Arian ahnte, welche Emotionen in ihr tobten. Für ihn waren sie so klar erkennbar, als trügen sie farbige Namensschilder. Er hätte sie aufzählen und in Prozenten angeben können. Das Bild vor seinem geistigen Auge war beeindruckend wie ein abstraktes Kunstwerk, und für einen Engel, der keine Gefühle haben durfte, ebenso verwirrend. Natürlich hatte sie Angst und war schockiert, aber er spürte auch eine erstaunliche Akzeptanz und das Verlangen nach Antworten. Ganz klein, kaum sichtbar, flackerte eine Emotion auf, die schon wieder unsichtbar war, bevor er sie deuten konnte. Juna hatte in diesem Lagerhaus eine Magie gesehen, die kein Mensch schadlos verkraftete. Er hatte ihr diese Erfahrung ersparen wollen, dabei aber offensichtlich ihren Drang, den Dingen auf den Grund gehen zu wollen, unterschätzt. Jeden anderen Menschen hätte er umgehend von den schrecklichen Erinnerungen befreien können. Doch sie würde den Rest ihres Lebens nicht vergessen, was gerade geschehen war. Sie war eine Engelseherin, und Arian war sich nicht sicher, ob es überhaupt jemanden gab, der Juna die Erinnerung nehmen konnte.
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu, wollte ihr Trost spenden, wo es keinen gab. Sie wich erneut zurück. Doch dann ging ganz plötzlich eine Wandlung mit ihr vor: Sie ballte die Hände zu Fäusten und hob das Kinn, bis ihre Blicke sich trafen. Kampfbereit stand sie da, brachte sogar ein Lächeln zustande und verlangte mit erstaunlich ruhiger Stimme nach einer Erklärung.
»Später kannst du mich alles fragen, aber jetzt müssen wir fort von hier!« Er sagte es nicht nur, um Zeit zu gewinnen. Arian hatte den Mann auf der Straße schon vorher gespürt, aber ignoriert, weil er keine Gefahr für ihn darstellte. Nun jedoch kam er näher, und eine zusätzliche Komplikation war das Letzte, was er in diesem Augenblick gebrauchen konnte. Wäre er allein gewesen, hätte der Mann in wenigen Sekunden nichts als eine leere Lagerhalle vorgefunden.
Doch Junas Anwesenheit verkomplizierte alles. Schließlich entschied er sich, ihr die Wahrheit zu sagen. »Dort draußen ist jemand. Frag jetzt nicht und tue einfach, was ich dir sage.« Ihr Zögern kostete wertvolle Sekunden. »Bitte!«
Da ergriff Juna seine ausgestreckte Hand und ließ sich von Arian zum Ausgang geleiten. Bevor sie die Straße betraten, legte er einen Finger auf ihre Lippen und bedeutete ihr, in den Schatten der Toreinfahrt zu warten. Langsam näherte sich ein alter Ford, der mit halb heruntergekurbeltem Fenster schließlich unter der kaputten Laterne anhielt. Im Innenraum leuchtete die Glut einer Zigarette auf, dann flog sie aus dem Fensterspalt auf den Asphalt und rollte wie ein winziger Feuerball in den Rinnstein. Ganz offensichtlich war hier ein reichlich gedankenloser Beobachter am Werk. Der erhöhte Herzschlag überzeugte Arian, dass der Mann im Auto wenig
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