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Fluegelschlag

Titel: Fluegelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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Erfahrung damit hatte, seine Nächte
auf verlassenen Straßen zu verbringen. Im Nu war er bei ihm, riss die Tür auf und prallte zurück. Bei dem Fahrer, der wieselflink aus dem Auto sprang, handelte es sich um niemand anderen als John. »Was hast du hier zu suchen?« Arians Stimme war kaum mehr als ein Zischen.
    »Du!« John klang nicht weniger feindselig. »Das könnte ich dich auch fragen.« Dann huschte ein wissendes Grinsen über sein Gesicht. »Ich wusste gleich, dass du keine reine Weste hast. Was ist es? Lass mich raten … Weiber kriegt einer wie du umsonst. Sind es Wetten? Nein, dafür ist der hübsche Junge zu vornehm.« Er drückte Arian den ausgestreckten Zeigefinger in die Brust. »Das Glücksspiel hat dir das Genick gebrochen, hab ich Recht?«
    »Ein gutes Stichwort …« Arian verspürte das überwältigende Bedürfnis, dem schmierigen Kerl den Hals umzudrehen. Aber einmal abgesehen davon, dass Engel nicht einfach herumlaufen und irgendwelche Menschen umbringen durften - auch wenn es sich um so widerliche Vertreter ihrer Art handelte wie bei diesem Exemplar -, spürte er plötzlich Junas Blick im Rücken. Sie liebte ihren Bruder ungeachtet seiner charakterlichen Defizite. Selbst wenn sie es nicht täte, würde sie ihm nie verzeihen, wenn er den Kerl vor ihren Augen umbrachte. Also legte er seine Hand auf Johns Stirn, der vor Überraschung keine Gegenwehr zeigte, und flüsterte Worte in einer uralten Sprache.
    Johns Augenlider flatterten, dann sackte er in sich zusammen. Arian fing ihn auf und setzte ihn ins Auto, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er dabei mit dem Kopf gegen das Lenkrad schlug. Kaum hatte er die Tür zugeworfen und sich umgedreht, lief ihm Juna bereits über die Straße entgegen.

    »Wer ist das?«, wollte sie wissen, aber ihre Worte klangen dumpf an Arians Brust, der sie fest an sich gezogen hatte, um ihr damit den Blick auf das Fahrzeug zu versperren.
    »Niemand!« Ehe sie etwas entgegnen konnte, hatte er bereits die Schwingen ausgebreitet und sich in den Nachthimmel erhoben.
     
    Schon als Kind hatte sich Juna gewünscht, fliegen zu können. In ihren Träumen war sie dahingeglitten, warmer Sommerwind hatte mit ihrem langen Haar gespielt, und großer Frieden war über sie gekommen, während sie die Landschaften unter sich betrachtet hatte. Sie war eins mit den Elementen geworden, und das Glücksgefühl hatte weit bis in den Alltag hineingestrahlt. Jetzt erlebte sie einen Alptraum. Wie von einem Katapult abgeschossen hatte es sich angefühlt, als Arian sie regelrecht von den Füßen gerissen hatte. Pfeilschnell hatten sie die Wolkendecke durchstoßen und waren dabei komplett durchnässt worden. O ja, und Wind gab es hier oben zur Genüge. Er zerrte an ihrem Kleid, pfiff in ihren Ohren und biss eisig in ihre Haut. Die Finger, mit denen sie sich an Arians Mantel festkrallte, wurden allmählich steif vor Kälte, und neue Visionen verdrängten endgültig die Bilder ihrer Kindheit: Panik überrollte sie bei der Vorstellung, sich nicht mehr festhalten zu können, nass und hilflos seinem Griff zu entgleiten und in die Tiefe zu stürzen. Jedes Mal, wenn sie das Echo des kraftvollen Flügelschlags in ihrem Körper spürte, glaubte sie, ein Stück weiter aus seiner Umarmung zu gleiten. Bilder drängten sich auf: von ihrem zerschmetterten Körper, den man dort unten irgendwo finden würde, vielleicht erst nach Tagen, zerrissen von wilden Tieren und bis zur Unkenntlichkeit
entstellt. Juna rief sich zur Ordnung. Unter ihnen breiteten sich die Vorstädte Glasgows aus, wilde Tiere traf man dort höchstens in Menschenform an.
    Arian, der in diesem Augenblick mehr Macht denn je ausstrahlte, entsprach nicht ihrer Vorstellung von einem Engel. Diese himmlischen Beschützer hatte sie bisher fast ausschließlich als nahezu geisterhafte Geschöpfe kennengelernt, und von den wenigen, die diesem Bild nicht entsprachen, hatte nicht einer über diese geradezu greifbare Aura aggressiver Männlichkeit verfügt. Dennoch fürchtete sie sich nicht mehr vor ihm. Im Gegenteil, ihr gefiel sein fester Griff um ihre Taille; in seinen Armen fühlte sie sich sicher … zumindest, solange sie am Boden blieben. Und selbst wenn ihre Intuition sie vollständig im Stich gelassen hätte, hätte er es auch dem dunklen Engel überlassen können, ihr etwas anzutun. Dabei hätte er sich nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen müssen, für den Fall, dass er jemandem über sein Handeln Rechenschaft abzulegen hatte.

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