Fluegelschlag
werden.
»Mein Gott, wer hat dir das angetan?« Juna ignorierte ihre augenscheinliche Furcht, kniete sich vor ihr auf den Boden und zog sanft ihre Hände herab, bis sie das Gesicht sehen konnte. Eine tiefe Wunde zog sich von der Stirn über die Wange bis zum Hals. Sie sah aus, als sei sie schon mehrere Tage alt, und auf den ersten Blick waren keine weiteren Verletzungen zu erkennen. Dennoch leuchtete das Gewand rot von frischem Blut - ebenso wie Junas Hand, mit der sie sich am Boden abgestützt hatte.
Anstatt sich helfen zu lassen, versuchte das Mädchen, sie zurückzustoßen. »Geh weg«, flüsterte sie eindringlich. »Bitte, geh!« Kurz schienen sich ihre Konturen aufzulösen, als wolle sie ihrem eigenen Rat folgen und in eine andere Dimension entfliehen. Fasziniert beobachtete Juna, wie die Wunde weiter heilte, und plötzlich begriff sie. Vor ihr saß ein Schutzengel, und aus einem unerklärlichen Grund gelang es ihm nicht, unsichtbar zu werden. Jeder andere Mensch hätte ihn auch gesehen. »Schone deine Kräfte.« Mitleidig blickte sie das Mädchen an. »Ich will dir helfen.« Ein Blitz erhellte die Halle für Sekunden. Dann legte sich unheimliche Stille über die neue Dunkelheit. Wir müssen hier raus! , dachte Juna panisch und versuchte, den Engel auf die Beine zu ziehen.
»Was haben wir denn da?«
Sie fuhr herum und stellte sich instinktiv vor das Mädchen. Der Mann vor ihr war auch ohne seine Flügel eine furchteinflößende Erscheinung. Wellen aus Hass und maliziöser Bosheit gingen von ihm aus, und ihre Knie zitterten immer heftiger, je näher er kam. Er bewegte sich langsam, sah sie nicht einmal an und verhielt sich für einen Angreifer geradezu nachlässig, als wisse er genau, dass sie nicht fliehen würde.
Und auf einmal kehrte das Licht zurück. Der gleißende Schein übersinnlicher Energie blendete Juna. Sie hörte einen Schrei und erkannte ihre eigene Stimme. Ängstlich wich sie zurück. Gerade noch rechtzeitig, bevor das Zischen einer Klinge das Unfassbare verhieß. Das Licht wurde schwächer, Arian trat daraus hervor und ragte wie ein Racheengel über seinem Gegner auf, der nun leblos am Boden lag. Blut tropfte von seinem Schwert.
Junas Zähne schlugen aufeinander, sie zitterte am ganzen Körper, und Arian war sofort bei ihr. »Es ist vorbei!« Behutsam nahm er sie in die Arme und versperrte mit seinem warmen Körper den Blick auf den Getöteten.
Doch Juna fürchtete sich vor diesem Arian, der so anders war als der, den sie bisher kennengelernt hatte. Sie entwand sich seiner Umarmung und wollte zu dem Mädchen eilen, das mit weit aufgerissenen Augen zu ihnen aufsah.
»Bleib!«
Dieses eine Wort von Arian genügte, und ihr Körper verweigerte den Gehorsam. Es schien, als wäre sie plötzlich in einer Statue gefangen. Sie konnte sich nicht einmal mehr spüren. Hilflos musste sie zusehen, wie das Mädchen zu fliehen versuchte. Mit zwei Schritten war Arian an Juna vorbei und hielt das Mädchen fest.
»Tu mir nichts!«, jammerte sie und versuchte sich loszureißen. Doch es war deutlich, dass sie zu geschwächt war, um sich seinem Griff zu entwinden. Wahrscheinlich hätte sie auch unverletzt keine Chance gegen ihn gehabt.
»Was wollte der Dämon von dir?«
Statt einer Antwort begann sie zu schluchzen.
Arian schüttelte sie ungeduldig, was das Weinen nur verstärkte. Er seufzte. »Hör doch auf zu weinen! Ich tue dir ja nichts, aber ich muss wissen, was geschehen ist.«
Es war zwecklos. Sie zitterte am ganzen Körper, und aus ihrem Mund kamen nur kleine Klagelaute, die Juna so sehr ans Herz gingen, dass ihr ebenfalls die Tränen in die Augen stiegen. Sie fragte sich, warum Arian nicht begriff, dass er auf diese Weise nichts von ihr erfahren würde. Entsetzt beobachtete sie, wie er die Hand auf die Stirn des Mädchens legte, das unter der Berührung erschlaffte. Arian
beugte sich herab, bis sich ihre Lippen berührten, dann küsste er den zierlichen Schutzengel. Merkwürdigerweise missfiel Juna dieser Anblick ebenso sehr wie seine vorherigen Grobheiten. Sie hörte ein eifersüchtiges Knurren und begriff Sekunden später, dass es aus ihrer Kehle stammte. Die Glut dieser fremdartigen Emotion befreite sie aus ihrer Versteinerung … aber es war zu spät. Die beiden Engel wurden von Arians Licht eingehüllt, und voller Verwunderung beobachtete sie, wie sich eine Wolke aus winzigen Sternen herauslöste, langsam zur Decke schwebte und in die Nacht verschwand, ohne dass das Dach über ihnen ihr
Weitere Kostenlose Bücher