Fluegelschlag
Blick überhaupt nichts zu sehen. Erst allmählich gewöhnten sich ihre Augen an das Dämmerlicht. Zum Glück schien ihre Anwesenheit unbemerkt geblieben zu sein, und ihr Instinkt riet ihr, dass es am besten für sie war, wenn dies auch weiterhin so bliebe. Fauliger Geruch stieg ihr in die Nase, und sie wollte gar nicht wissen, was in den finsteren Winkeln dort drüben verweste. Der Boden unter ihren Füßen war vermutlich überdeckt von einer Patina, die in den letzten hundert Jahren gewachsen sein musste. Er schien alles Licht zu verschlucken und fühlte sich klebrig an. Juna wusste von ihren Einsätzen als Tierretterin, dass es hier am Fluss viele dieser Gebäude gab, die seit Jahren dem Verfall preisgegeben waren. Ihre Besitzer interessierten sich einfach nicht mehr für sie. Vielleicht, weil die Abrisskosten höher gewesen wären als die Steuern, die sie zu zahlen hatten, und weil sie hofften, eines Tages gutes Geld für ihre Ufergrundstücke zu bekommen, so wie in anderen Städten auch. Diese ehemalige Fabrik war offensichtlich zuletzt als Lager genutzt worden, das jetzt allerdings so gut wie leer war. Nur in der Mitte standen noch wenige, mit einer dicken Staubschicht bedeckte Paletten. Die helle Kunststoffumhüllung der Waren wirkte dennoch zwischen den Relikten der alten Industrieanlage merkwürdig deplatziert. Weiter oben befand sich eine Galerie, auf die man über rostige Treppen gelangte. Von der Decke hingen Haken an langen Eisenketten, und obwohl sie in der Dunkelheit fast nichts sehen konnte, vermutete Juna, dass sie einst dazu gedient hatten, schwere Gegenstände durch die Halle zu transportieren. Erst jetzt
nahm sie wahr, dass sich die vorherige Stille zugunsten eines Grollens, das entfernt an Donner erinnerte, verabschiedet hatte. Seit wann? Es klang unheimlich … und ebenso beunruhigend wie das helle Geräusch aufeinanderprallenden Metalls, das nun hinzukam.
Und dann tauchte er plötzlich wie aus dem Nichts auf. Arian stand auf dem Geländer der Galerie, als wäre es dort oben so sicher wie auf festem Untergrund. Ihm gegenüber, auf der anderen Seite der Halle, bemerkte sie eine Bewegung.
»Du bist zu spät, Wächter!«, höhnte eine körperlose Stimme aus den Schatten.
Arian antwortete mit einem Lachen, das Juna noch stärker frösteln ließ. Und dann sprang er.
Als habe Schwerkraft für beide keine Bedeutung, trafen sich die Kontrahenten in der Raummitte, weit über Junas Kopf. Schwerter schlugen gegeneinander, so dass Funken stoben. Geschmeidig wich Arian einem Vorstoß seines Gegners aus. Fast beiläufig wirkten seine Bewegungen - selbst als er angriff und den anderen nur knapp verfehlte, geschah es mit einer Leichtigkeit, als nähme er die ganze Auseinandersetzung nicht ernst. Doch Juna hatte nur Augen für das herrlichste Paar Flügel, das sie jemals gesehen hatte. Die perlmuttfarbenen Schwingen zauberten einen Lichtkranz, als leuchteten sie von innen. Sein Gegner spiegelte dieses Wunder mit Dunkelheit. Auch er besaß Flügel, doch sie waren schwarz und schienen das Licht um ihn herum zu absorbieren, so dass er in der Dunkelheit kaum zu erkennen war. Ein Vorteil, den er offensichtlich nicht zu nutzen verstand, denn Arians nächster Angriff war so präzise wie der vorherige und brachte ihn erneut in Bedrängnis.
Der Mann erkannte seine Lage, wich zurück und war plötzlich verschwunden. Juna gab unwillkürlich einen Laut des Erstaunens von sich.
»Hast du schon genug?« Arian lachte. Der Klang seiner Stimme durchschnitt das Zwielicht wie eine Guillotine. Sie wäre um ihr Leben gerannt, wenn nicht eine kleine Stimme in ihrem Inneren geflüstert hätte: Das ist Arian, dein Engel! Vor ihm musst du dich nicht fürchten! Vielleicht wäre sie dennoch geflohen - wie er es ursprünglich von ihr verlangt hatte -, hätte sie nicht im selben Moment ein leises Wimmern hinter sich gehört. Sie fuhr herum, auf alles gefasst.
Ein schwaches Leuchten hinter einer großen Kiste zu ihrer Linken, das vorher nicht da gewesen war, erregte sofort ihren Argwohn. War dies eine Falle? Juna, die noch nie einer Kreatur in Not den Rücken gekehrt hatte, zögerte dennoch keine Sekunde. Vorsichtig und jederzeit fluchtbereit näherte sie sich der Lichtquelle. Was sie dort fand, ließ ihren Atem stocken. Ein Mädchen, ängstlich zusammengekrümmt, die Blöße mit ein paar weißen Stofffetzen spärlich bedeckt und blutüberströmt. Als sie Juna sah, hob sie schützend die Arme, als erwarte sie, von ihr geschlagen zu
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