Fluegelschlag
Asphalt malte und damit der Dunkelheit einen melancholischen Anstrich verlieh. Der Lichtschein wurde auf einmal schwächer, erholte sich für wenige Sekunden, als würde ein lebendiges Wesen nach Luft ringen. Vergebens. Als entweiche alle Energie aus dem gläsernen Körper, war schließlich nur noch ein feines Glimmen darin zu sehen. Und dann hörte sie es: ein Schrei, so hoch, wie kein menschliches Wesen ihn jemals hätte ausstoßen können. Im selben Augenblick traf sie der fremde Schmerz wie ein Blitzschlag. »Es kommt von dort hinten!« Der Finger, mit dem sie auf das dunkle Gebäude am Ende der Straße zeigte, zitterte.
Niemals zuvor hatte sie etwas Ähnliches erlebt. Sicher, die Jungs von der Tierrettung witzelten gelegentlich, Juna sei besser als jeder Spürhund, so zuverlässig führten ihre Instinkte sie zu Tieren in Not. Doch auch wenn sie mit ihren Patienten stets mitlitt, war es doch mehr Anteilnahme
als ein wahrhaftiger Schmerz, den sie verspürte. Nun jedoch war alles anders. Hätte Arian nicht direkt neben ihr gestanden und konzentriert in die Ferne gelauscht, sie hätte geglaubt, selbst angegriffen worden zu sein.
»Lauf! Lauf, so schnell du kannst!« Arian schob sie in die entgegengesetzte Richtung und gab ihr einen Stoß.
Juna rannte los … bis ihr von Schmerz und Panik geblendeter Verstand allmählich wieder zu funktionieren begann. Ihre Schritte wurden langsamer, schließlich blieb sie stehen. Jemand war in Not und sie rannte davon?
Juna drehte sich um, lauschte. Nichts.
Die Schreie waren verstummt, Arian war nirgendwo zu sehen. Die Stille beunruhigte sie nicht nur, sie begann, ihr regelrecht auf die Nerven zu gehen. Und dann begriff sie, dass sie überhaupt nichts mehr hörte. Nicht den Wind, der eben noch durch die Straßen gefegt war, nicht die Stadt, in der sie sich befand. Es schien, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Verunsichert machte sie einen Schritt nach vorn. Kein Laut war zu hören, als ihr Absatz den Boden berührte. Sie schnalzte mit der Zunge, das Geräusch schien ihren Mund nicht zu verlassen, aber immerhin hörte sie überhaupt etwas und wusste, dass mit ihren Ohren alles in Ordnung war. Etwas Unheimliches ging vor sich.
Doch anstatt Arians Befehl zu folgen und sich in Sicherheit zu bringen, ging sie zurück. Erst langsam, dann immer schneller. Schließlich rannte sie und blieb erst kurz vor dem alten Backsteinbau, in dem Arian verschwunden sein musste, stehen. Leicht vorgebeugt, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, versuchte sie, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals; es
war ein Gefühl, als wollte ihr jemand die Kehle zudrücken. Zu dieser Angst gesellte sich auch noch die Sorge um Arian. Sie atmete konzentriert durch die Nase ein und ließ den Luftstrom durch den Mund entweichen, bis ihr Herz wieder gleichmäßig und kraftvoll schlug. Erst da wagte sie es schließlich, sich dem Durchgang zum Innenhof zu nähern.
Der Schein der orangefarbenen Straßenlaterne hatte vor der Dunkelheit nahezu kapituliert und war ihr kaum eine Hilfe, während sie sich behutsam vorantastete. All ihre Sinne waren aufs Äußerste angespannt, jederzeit bereit, den Fluchtbefehl zu geben. Der Innenhof wurde schwach vom Mondlicht erleuchtet. Die rauen Betonplatten zeigten tiefe Risse, aus denen Grasbüschel und kleine Sträucher wuchsen.
Immer noch war sie von einer bedrückenden Stille umgeben, die ihr das Gefühl vermittelte, als schwebe sie durch die Schwerelosigkeit, unfähig, sich genau zu orientieren. Beste Alptraumqualität , dachte Juna und war versucht, sich zu kneifen, um zu sehen, ob sie erwachen würde.
Den schmalen Lichtstreifen, der weit von ihr entfernt auf den Boden fiel, hätte sie beinahe übersehen. So leise wie möglich überquerte sie den Innenhof, bis sie den verräterischen Lichtschein erreichte. Eine Tür, nur angelehnt!
Behutsam drückte sie dagegen, und der abblätternde Lack verursachte ihr eine Gänsehaut, die über ihre Arme lief, bis sie zum Vorboten unheimlicher Ereignisse zu werden schien. Die Tür schwang auf, und Juna trat mitten ins Inferno. Weißes Licht explodierte vor ihren Augen, blitzschnell schützte sie sie mit den Händen und presste sich flach an die raue Backsteinmauer. Als sie vorsichtig die Hände sinken ließ, rechnete sie mit dem Schlimmsten.
Stattdessen fand sie sich in Dunkelheit wieder. Niemand stand bedrohlich vor ihr, bereit, sie für ihre Neugier zu bestrafen. Tatsächlich war auf den ersten
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