Fluegelschlag
verstand.
Die außerordentliche Fähigkeit, die sie nun eindrucksvoll demonstrierte, war ihrer marinen Herkunft geschuldet. Nigellas Haut glitzerte im Licht der Kerzen wie Milliarden Wassertröpfchen. Ihre Konturen lösten sich auf, und sie floss erst langsam, wie zäher Sirup, dann immer schneller durch die Gitterstäbe, bis nichts mehr von ihr übrig war als eine Lache am Boden.
Einen Wimpernschlag später jedoch erhob sich ihre zarte Gestalt aus dem Wasser, und Nigella verbeugte sich vor Nácar, wie er es ihr beigebracht hatte. Die Fee umgab ein sanftes Leuchten, das ihn immer wieder in Erstaunen versetzte, denn von einem Wassergeist, der sich so lange in seiner Welt hielt, hatte man noch nicht gehört. Sicherlich lag es an seiner
guten Pflege. Wie alle Feen war sie eine sinnliche und einfallsreiche Gespielin. Zur Belohnung schenkte er ihr deshalb nach besonders befriedigenden Nächten eine Stunde in einem Pool, den er zuvor mit klarem Quellwasser gefüllt hatte. Wenn sie in ihrem Element war, wirkte sie so glücklich, dass Nácar manchmal glaubte, sie bringe ihm zumindest ein wenig Sympathie entgegen. Seltsamerweise erfreute ihn diese Vorstellung, und er ließ sich den Luxus gern einiges kosten, zumal ihre außerordentlichen Talente ihn beim alljährlichen Wettbewerb der Apprentice regelmäßig gewinnen ließen. Sein Wassergeist war begehrt, und manch ein Dämon hatte schon versucht, ihn zu stehlen. Nun waren allerdings nicht übersinnliche Gaben gefragt, sondern eher häusliche. »Du wirst mir das hier sortieren!«
Er verließ den Raum, denn es gab keinen Grund, auf eine Antwort zu warten.
Sie würde den Befehl selbstverständlich ausführen. Für ihn gab es dringlichere Geschäfte zu erledigen.
Die letzte Seelenernte war sehr erfreulich ausgefallen. Es wurde immer schwieriger, seinen Appetit zu stillen, denn je mehr Seelen er trank, desto hungriger schien er zu werden. Doch heute fühlte er sich gesättigt und zufrieden und wäre fast kein zweites Mal zurückgekehrt, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, weil er sichergehen wollte, nichts übersehen zu haben. Nicht nur vor den Engeln musste er sich in Acht nehmen. Je schneller seine Kräfte zurückkehrten, desto größer wurde die Gefahr, dass der Marquis von seinen Plänen Wind bekam, und das durfte nicht geschehen. Noch fühlte er sich nicht stark genug, um seinen mächtigen Herrn herauszufordern.
Nun war er froh, zurückgekehrt zu sein, denn von seinem Platz auf der alten Burgruine beobachtete er ganz erstaunliche Dinge. Da war diese Sterbliche, die mit ihrem Schutzengel plauderte, als sei es die normalste Sache der Welt. Der weibliche Schutzengel wiederum machte sich nicht einmal die Mühe zu verbergen, was er war. Sie saß zwar in Menschengestalt dort, aber kein magisches Wesen hätte ihre wahre Natur übersehen können. Anderenfalls hätte Nácar sie auch gar nicht bemerkt. Im Gegensatz zu den meisten anderen ihrer Kollegen wirkte diese himmlische Aufpasserin selbstbewusst. Nácar mochte sich irren, aber jede ihrer Bewegungen machte den Eindruck, als sei sie durchaus kampferfahren.
Irgendetwas stimmte da nicht, aber er kam nicht dahinter, was es war. Und als der Wächter, mit dem er sich schon einmal hatte herumschlagen müssen, auftauchte, wuchs sein Ärger noch. In die Gedanken der Sterblichen einzudringen, versuchte er gar nicht erst. Darin besaß Nácar kein großes Geschick. Auf einmal jedoch wusste er zumindest, warum sie ihm so bekannt vorkam. Nicht nur hatte sie den Wächter schon bei ihrer unglücklichen Begegnung in der Halle am Fluss begleitet, nein, viel besser: Er hatte ihr Foto in Johns Wohnung gesehen. Der selbsternannte Dämonenbeschwörer hatte zwar versucht, es vor ihm zu verbergen, aber damit selbstverständlich Nácars Interesse erst recht geweckt. Äußerlich gab es zwischen den beiden keine auffällige Ähnlichkeit, und er war davon ausgegangen, eine von Johns Freundinnen dort abgelichtet zu sehen, doch jetzt erkannte er im Schwung ihrer Augenbrauen und in der Art, wie sie beim Reden ihre schlanken Hände bewegte, die Verwandtschaft der beiden. Das Beste war: Ihr Umgang mit
den himmlischen Mächten bewies, dass diese sie förderten, anstatt einen Engelseher, wie sonst üblich, sofort zu vernichten. Und es zeigte ihm noch etwas viel Interessanteres: Sie verfügte über weit größere Kräfte als John. Kein Wunder, dass er versucht hatte, ihre Existenz vor ihm zu verheimlichen. Er musste wissen, dass sie ihm überlegen
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