Fluegelschlag
viele. Und wie sehr hatte sie unter ihnen gelitten, wie oft hatte sie sich anhören müssen, dass ihre Kräfte satanischen Ursprungs waren! Bei dem Gedanken an die Exorzismen, die sie hatte ertragen müssen, begann sie zu zittern. Das Grauen hatte sich tief in ihre Seele gebrannt.
Arian war sofort bei ihr. »Sie werden dir nichts tun.«
Die Beteuerung mochte überzeugend klingen, doch Juna hatte etwas anderes gesehen. »Warum hat er dann den Jungen getötet?«
Iris sah Arian an, als wollte sie sagen: Ich hätte dir gleich sagen können, dass sie nachfragt. Sie hielt sich jedoch zurück und schwieg.
»Was ist? Der Junge hat den Dämon gesehen. War er etwa auch einer von uns? Ein Engelseher, meine ich?«, ergänzte Juna vorsichtshalber. Wer wusste schon, ob Engel es
übelnahmen, wenn man sich versehentlich mit ihnen auf eine Stufe stellte. »Will dieser Gerechte etwa auch meine Seele verschlingen, so wie er es bei ihm getan hat?«
Die beiden Engel blickten einander an. Keiner schien ihr antworten zu wollen.
Endlich rang sich Arian zu einer Entgegnung durch. »Die Gerechten wollen die Geschichte rückgängig machen und alle Spuren der Gefallenen tilgen. Auch wenn dies bedeutet, dass Unschuldige sterben.«
»In ihren Augen sind alle Gaben, die die Menschheit von uns empfangen hat, unrein.«
»Aber heißt es nicht, dass der Mensch all seine Erkenntnisse den abtrünnigen Engeln zu verdanken hat? Dann wollen sie uns wieder auf den Stand von Urmenschen zurückschicken? Das ist doch verrückt.«
»Am liebsten wäre ihnen vermutlich eine Welt ohne Menschen, und manchmal denke ich …« Als Arian sie strafend ansah, verstummte Iris. Dann sagte sie: »Du darfst nicht alles glauben, was in den Büchern steht. Die Menschen haben sich ihren Fortschritt ganz allein eingebrockt. Von uns stammen allein eure magischen Fähigkeiten. Und davon ist ja bei den meisten sowieso herzlich wenig übrig geblieben«, fügte sie leise hinzu, bevor sie wieder diesen abwesenden Gesichtsausdruck bekam, von dem Juna inzwischen wusste, was er bedeutete: Irgendeines ihrer Schäfchen war mal wieder in Schwierigkeiten geraten. Sie beneidete ihre Freundin nicht um ihren Job.
10
N ácar gab dem kunstvoll gefesselten Bündel einen Stoß mit der Schuhspitze und beobachtete, wie es an dem dünnen Seil hin und her schwang. Er liebte all diese menschlichen Errungenschaften, mit denen sie sich tiefer und tiefer ins Unglück brachten. Nun war ein Nylonseil per se nichts Verwerfliches, aber wie viel feiner konnte er damit die Knoten knüpfen, wie herrlich schmerzhaft waren die Verletzungen, die sich ein Widerspenstiger damit selbst zufügen konnte, und wie außerordentlich ästhetisch die verschiedenen Farben auf nackter Haut.
Der Schutzengel, seine neueste Errungenschaft, stöhnte. Nácar ging um ihn herum und presste ihm unerwartet eine Hand auf den Mund. Mit der anderen verschloss er die Nasenlöcher. Es dauerte nicht lange, da begann sein Opfer zu zappeln. Er drehte den Kopf von rechts nach links, erst langsam, dann immer heftiger. Der Körper bäumte sich auf, bis die Seile tief in die Haut eindrangen, die ganze Kreatur ein lautloser Schrei. Lange würde er nicht mehr durchhalten. Die panischen Bewegungen ließen allmählich nach.
Nácar nahm eine Hand wieder fort, griff hinter sich in die Schale, in der zahllose Gummibälle lagen. Der Engel versuchte derweil verzweifelt, die Lungen mit Sauerstoff zu füllen, und riss dazu den Mund weit auf. Blitzschnell stopfte Nácar den Ball hinein und fixierte ihn mit einem Klebeband,
das er mehrfach um den Kopf des Wehrlosen schlang, ohne sich darum zu kümmern, wie viel von dessen wunderbarem Haar damit verklebt wurde. Danach hängte er ihn zu den anderen.
Seine einst mit Sündern gefüllte Kammer beherbergte nun ausschließlich himmlische Kreaturen. In den ersten Tagen hatte er sie einfach nur gefesselt und weggehängt. Doch heute störte ihn die Unordnung plötzlich. Er schnippte mit den Fingern und drehte sich um. Unter der Decke hing ein goldfarbener Vogelkäfig, der zum Bersten gefüllt zu sein schien. Wenn er sie nicht brauchte, hielt er seine Apprentice darin. Ein qualvolles und viel zu enges Gefängnis. Nigella hätte unter seinem ausgestreckten Arm problemlos hindurchspazieren können, aber sie war alles andere als ein Rabe, für den der Käfig einst gefertigt worden war. Sie besaß ja nicht einmal Flügel. Dafür verfügte sie über andere Talente, mit denen sie Nácar immer wieder zu unterhalten
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