Flug 2039
herzförmigen Höhlung zwischen den Hinterbeinen. Dort findet man, falls das Weibchen in den letzten zwei Jahren Sex gehabt hat, noch lebenden Rogen.
Das Telefon klingelt, während ich die Hummer, drei Männchen und zwei Weibchen, beide ohne lebenden Rogen, in den Kessel lege.
Das Telefon klingelt, während ich die Herdplatte eine Stufe höher stelle.
Das Telefon klingelt, während ich mir die Hände wasche.
Das Telefon klingelt, während ich mir eine Tasse Kaffee einschenke, um dann noch Sahne und Zucker einzurühren.
Das Telefon klingelt, während ich eine Hand voll Tang aus der Hummertüte nehme und auf den Hummern im Topf verteile. Ein Hummer hebt die Knackschere und bittet um Aufschub seiner Hinrichtung. Knackscheren und Schneidscheren, alle sind sie mit Gummibändern gefesselt.
Das Telefon klingelt, während ich mir ein weiteres Mal die Hände wasche und abtrockne.
Das Telefon klingelt, und ich gehe ran.
Haus Gaston, sage ich.
»Residenz Gaston!«, schreit es mich aus dem Lautsprecher an. »Sagen Sie es! Residenz Gaston! Melden Sie sich so, wie wir es Ihnen beigebracht haben!«
In Hauswirtschaftslehre wird einem beigebracht, dass man ein Haus nur in schriftlicher Form als Residenz bezeichnen darf. Das haben wir zigtausend Mal geübt.
Ich nehme einen Schluck Kaffee und korrigiere die Hitze unter den Hummern. Aus dem Lautsprecher kreischt es weiter: »Sind Sie noch dran? Hallo? Ist die Verbindung unterbrochen?«
Das Ehepaar, für das ich arbeite – die beiden waren einmal auf einer Party die einzigen Gäste, die nicht wussten, wie man das Deckchen zusammen mit der Fingerschale nimmt. Seitdem sind sie versessen darauf, Etikette zu lernen. Sie behaupten zwar immer noch, das sei sinnlos, das sei überflüssig, aber sie haben panische Angst, irgendein kleines rituelles Detail nicht zu kennen.
Noch immer schreit es aus dem Lautsprecher: »Antworten Sie! Verdammt! Was ist mit der Party heute Abend? Mit was für einem Essen haben wir da zu rechnen? Wir machen uns schon den ganzen Tag schreckliche Sorgen!«
Ich sehe im Schrank über dem Herd nach dem Hummerbesteck, nach den Nussknackern und Nussmessern und Lätzchen.
Dank meines Unterrichts kennen diese Leute die drei akzeptablen Möglichkeiten, das Essbesteck auf den Tisch zu legen. Ich habe sie gelehrt, Eistee richtig zu trinken, nämlich ohne die langen Löffel aus dem Glas zu nehmen. Das ist schwierig, aber es geht, wenn man den Löffelstiel an der dem Mund gegenüber liegenden Seite des Glases mit Zeige- und Mittelfinger festhält. Aber Achtung, dass man sich nicht das Auge aussticht! Man sieht Leute, die den benetzten Löffel herausnehmen und dann nicht wissen, wo sie ihn ablegen sollen, ohne das Tischtuch zu ruinieren. Oder noch schlimmer: Sie legen ihn einfach irgendwo hin und hinterlassen einen feuchten Teefleck.
Erst als der Lautsprecher verstummt, fange ich an zu sprechen.
Ich frage den Lautsprecher: Passen Sie gut auf?
Ich sage dem Lautsprecher: Stellen Sie sich einen Essteller vor.
Heute Abend, sage ich, liegt das Spinatsoufflé auf Höhe der Ein-Uhr-Position. Die Rote Bete auf vier Uhr. Fleisch mit Mandelsplittern kommt auf die andere Hälfte des Tellers, an die Neun-Uhr-Position. Zum Essen werden die Gäste ein Messer benutzen müssen. Und das Fleisch wird Knochen enthalten.
Das hier ist die beste Arbeitsstelle, die ich jemals hatte, keine Kinder, keine Katzen, politurfreie Fußböden, und daher will ich mir das nicht kaputtmachen. Wenn es mir egal wäre, würde ich meinen Arbeitgebern jeden Scheiß erzählen. Zum Beispiel: Sorbet isst man, indem man es auf Hundeart aus der Schüssel schlabbert.
Oder: Ein Lammkotelett hebt man mit den Zähnen vom Teller, und dann schüttelt man heftig den Kopf.
Das Schreckliche dabei ist: Die würden das wahrscheinlich sogar machen. Sie vertrauen mir, weil ich ihnen noch nie etwas Falsches beigebracht habe.
Außer ihnen Etikette beizubringen, besteht meine schwierigste Aufgabe darin, ihren Erwartungen zu entsprechen.
Fragt mich, wie man Messerstiche in Nachthemden, Smokings und Hüten ausbessert. Mein Geheimnis ist ein Tropfen klarer Nagellack auf die Innenseite des Einstichlochs.
In Hauswirtschaftslehre bringt einem niemand bei, was man für so einen Job alles können muss, aber im Lauf der Zeit sammelt sich auch so einiges an. In der Kirchenkolonie, in der ich aufgewachsen bin, lernt man, wie man Kerzen herstellt, die nicht tropfen: Dazu muss man sie in starkes Salzwasser legen und dann im
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