Flug 2039
ein.
Etwas Unfassbares ist geschehen.
Der Lautsprecher schreit: »Okay, und was jetzt? War das alles? Gibt es sonst noch was zu essen?«
Das darf nicht sein, nach meinem Terminkalender ist es nämlich bereits fast drei Uhr. Ich müsste längst draußen sein, um den Garten umzugraben. Um vier muss ich die Beete neu bepflanzen. Um halb sechs muss ich den Salbei entfernen und durch Schwertlilien, Rosen, Löwenmäulchen, Farn und Bodendecker ersetzen.
Der Lautsprecher schreit: »Was geht da vor? Antworten Sie? Stimmt was nicht?«
Ich überprüfe den Tagesplan, und der sagt mir, dass ich zufrieden sein kann. Dass ich fleißig bin. Dass ich gut arbeite. Das steht da alles schwarz auf weiß. Ich komme mit der Arbeit voran.
Der Lautsprecher schreit: »Was müssen wir als Nächstes tun?«
Heute ist bloß einer dieser Tage, an denen die Sonne nur scheint, um einen zu demütigen.
Der Lautsprecher schreit: »Was gibt es sonst noch?«
Ich ignoriere den Lautsprecher, weil es nichts mehr gibt. Jedenfalls fast nichts.
Vielleicht ist es ja nur eine optische Täuschung, aber nachdem ich fast den ganzen Hummer verzehrt habe, sehe ich, wie sein Herz schlägt.
Kapitel 43
Um meinem Terminkalender Genüge zu tun, versuche ich das Gleichgewicht zu halten. Ich stehe mit künstlichen Blumen in den Armen oben auf einer Leiter: Rosen, Margeriten, Rittersporn, Levkojen. Ich versuche etwaige Stürze abzufangen und verkrampfe deshalb die Zehen. Ich nehme noch einen Plastikstrauß ab. In meiner Hemdtasche steckt noch eine klein gefaltete Todesanzeige von voriger Woche.
Der Mann, den ich vorige Woche getötet habe, liegt noch irgendwo hier herum. Das, was noch von ihm übrig ist. Der mit dem Schrotgewehr unterm Kinn: saß allein in seiner leeren Wohnung und bat mich am Telefon, ihm einen einzigen guten Grund zu nennen, warum er nicht abdrücken sollte. Ich werde ihn auf jeden Fall finden. Trevor Hollis.
Tot, aber unvergessen.
Er ruht in Frieden.
Aus dem Leben abgerufen.
Oder aber er findet mich. Das hoffe ich jedes Mal.
Oben auf der Leiter, mindestens sieben, acht, neun Meter über dem Boden der Galerie, die Brille auf der Nasenspitze, katalogisiere ich, das heißt, ich tue jedenfalls so, die nächste künstliche Blume. Der Bleistift hinterlässt Wörter in meinem Notizbuch. Objekt Nummer 786, schreibe ich, rote Rose, etwa hundert Jahre alt.
Ich hoffe, alle anderen hier sind tot.
Es gehört zu meinem Job, in den Häusern – im Haus meiner Arbeitgeber – stets frische Blumen aufzustellen. Die Blumen soll ich in dem Garten pflücken, den ich zu pflegen habe.
Ihr solltet wissen, dass ich kein richtiger Leichenfledderer bin.
Die Blütenblätter und Kelche (Kelchblätter) der Rose sind aus rotem Celluloid gemacht. 1868 erstmals hergestellt, ist Celluloid der älteste, aber auch instabilste thermoplastische Kunststoff überhaupt. Ich schreibe in mein Notizbuch: Die Blätter der Rose sind aus grün eingefärbtem Celluloid.
Ich höre auf zu schreiben und sehe über den Rand meiner Brille. Am Ende der Galerie, so weit weg, dass sie nur als kleiner schwarzer Umriss vor einem riesigen Buntglasfenster zu sehen ist, steht eine Gestalt. Das bunte Glas stellt irgendetwas dar, Sodom oder Jericho oder den Tempel Salomos, der im Alten Testament durch Feuer zerstört wird. Stumm steht das Gebäude in Flammen. Lodernde Flammenzungen in Rot und Orange winden sich um einstürzende Mauern, Säulen und Friese, und aus all dem schreitet eine Gestalt; sie trägt ein kleines schwarzes Kleid und wird im Herankommen immer größer.
Ich hoffe, dass sie tot ist. Und wünsche mir insgeheim eine Affäre mit diesem toten Mädchen. Mit einem toten Mädchen. Niemand kann mir nachsagen, dass ich wählerisch sei.
Ich mache den Leuten weis, dass ich die Entwicklung der künstlichen Blumen zur Zeit der industriellen Revolution erforsche. Ich behaupte, eine Dissertation zum Thema Natur und Design zu schreiben. Mein relativ hohes Alter erkläre ich damit, dass ich ein Zweitstudium betreibe.
Das Mädchen hat lange rote Haare von der Art, wie Frauen sie heutzutage nur tragen, wenn sie irgendeiner orthodoxen Religionsgemeinschaft angehören. Ich stehe da oben auf der Leiter, betrachte immer wieder die dünnen biegsamen Arme und Beine des Mädchens und frage mich, ob ich eines Tages vielleicht noch pädophil werden könnte.
Die Rose, die ich gerade zu untersuchen vorgebe, ist zwar nicht das älteste Exemplar hier, aber das zerbrechlichste. Das weibliche
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