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Flugasche

Flugasche

Titel: Flugasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Maron
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war und in dem der Großvater lebte, nachdem man ihn aus Deutschland ausgewiesen und bevor man ihn in ein Getto eingeliefert hatte. Die Angst des Großvaters bedrückte mich. Nachdem ich sie einmal entdeckt hatte, fand ich sie auch auf den älteren Bildern, die aus der Zeit in Berlin stammten, als der Großvater noch schneiderte und an den Sonntagen seine Freunde besuchte. Der skeptische, wachsame Blick und die Kopfhaltung, die auf fast allen Bildern die gleiche war und die den Eindruck erweckte, der Großvater wiche vor dem Betrachter des Bildes vorsichtig zurück. Als ich die Angst des Großvaters entdeckte, kannte ich selbst kaum eine andere Angst als die vor Mathematikarbeiten und dunklen Kellern. In den Büchern, die ich damals las, war auch mehr von Mut die Rede als von Angst, vom Mut der Widerstandskämpfer, der Neulanderoberer, der sowjetischen Partisanen. Angst war keine liebenswerte Eigenschaft, und ich versuchte sie zu unterdrücken, so gut ich konnte.
    Später erkannte ich meine Verwandtschaft mit dem Großvater auch in der Angst. Als Mohnhaupt mich nicht in die Partei aufnehmen wollte, weil er, wie er sagte, befürchten müßte, von mir einen Schuß in den Rücken zu bekommen, hatte ich Angst vor ihm. Jeder Pförtner macht mir angst, der mich angeifert, weil ein Blatt in meinem Personalausweis lose ist. Ich fürchte mich vor den alten Frauen, die mit ihren Krückstöcken die Kinder von den Wiesen jagen, damit ihre Hunde in Ruhe darauf scheißen können. Die Machtsucht primitiver Gemüter läßt mich zittern. Ich glaube, da der Großvater jähzornig war, muß auch auf seine Angst das Rauschen in den Ohren gefolgt sein, ein Rauschen, das den Kopf ausfüllt und alle Gedanken verdrängt außer dem Gedanken an die Angst. Die Angst wächst, wird größer als ich selbst, will aus mir hinaus. Sie bäumt sich und reckt sich, bis sie Wut ist und ich platze. Dann schreie ich den Pförtner an, bis er sich knurrend in sein Häuschen verzieht. Einer alten Vettel mit einem dicken Dackel habe ich sogar gedroht, sie zu verprügeln, falls sie nicht sofort das Kind losließe, das sie am Oberarm gepackt hielt. Und die andere Angst, die abgründige, die schwarze, die ein großes finsteres Loch um mich reißt, in dem ich schwerelos schwebe. Jeder Versuch, einen Halt zu finden, ist zwecklos. Was ich berühre, löst sich von dem, zu dem es gehört, und schwebt wie ich durch den Abgrund. Wenn ich an den Tod denke. Wenn ich den unfaßbaren Sinn meines Lebens suche. Der Großvater fürchtete das Kornfeld, in das er getrieben wurde. Was habe ich zu befürchten? Das Bett, in dem ich sterben werde. Die Leben, die ich nicht lebe. Die Monotonie bis zum Verfall und danach.

II.
    Morgen fahre ich nach B. Ich habe diese Stadt noch nie gesehen, weiß nur, daß es als Schicksalsschlag gilt, in B. geboren zu sein.
    Im Plan steht: Reportage über B. Eine sympathische Formulierung. Hieße es statt dessen: Porträt über den Arbeiter Soundso, dahinter in Klammern: wurde am 7.Oktober mit dem ›Banner der Arbeit‹ ausgezeichnet, brauchte ich nicht nach B. zu fahren. Ich könnte einen ähnlichen Beitrag der letzten Jahre heraussuchen, telefonisch Alter, Haar- und Augenfarbe des Kollegen Soundso erkunden, eventuell auch einige auffällige Wesenszüge, und könnte beginnen: Der Kollege Soundso aus B. ist ein bescheidener (bzw. lebhafter) Mann um die Vierzig (bzw. Dreißig oder Fünfzig), der mich, während er über seine Arbeit spricht, aus seinen blauen (bzw. braunen) Augen ernst (bzw. heiter) ansieht. Undsoweiter, undsofort. Nicht, daß der Kollege Soundso den Orden nicht verdient hätte und nicht ein vorbildlicher Mensch wäre. Aber er hat nicht mehr viele Möglichkeiten, sich zu verhalten, nachdem sein Name in der Zeitung stand.
    Entweder empfängt er mich mit herablassendem Lächeln, nicht arrogant, eher mitleidig und amüsiert, weil ich die sechste oder siebente bin und weil er weiß: Was immer ich an ihm finde, ich werde Gutes schreiben. Aber der Kollege Soundso ist ein freundlicher Mensch, erspart mir die Skrupel, erzählt von seinem guten Kollektiv, seinem guten Meister, seiner guten Ehe und arbeitet weiter.
    Oder er ist inzwischen ein Opfer meiner Kollegen geworden. Dann erzählt er so, wie er über sich gelesen hat, nimmt die Legende als seine Vergangenheit an, fürchtet, sich seiner eigenen Sprache zu bedienen und dem ungewohnten Anspruch, eine öffentliche Persönlichkeit zu sein, nicht gerecht zu werden.
    Der Unglücksfall wäre die

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