Flußfahrt
Lichtstreifen, eine kühle, gewundene Flamme. Ich muß etwa fünfundzwanzig bis dreißig Meter hoch gewesen sein und schwebte gewissermaßen über diesem unausweichlichen Glanz, diesem strahlenden Abgrund. Ich wandte mich wieder der Felswand zu und preßte meinen Mund dagegen. Mit meinen Nerven und Muskeln fühlte ich genau, wie ich die Wand an vier Punkten so beherrschte, daß alles zusammenhielt. Etwa zu diesem Zeitpunkt überlegte ich, ob es besser sei, wieder zurückzuklettern, mich am Ufer entlangzuarbeiten und nach einem einfacheren Aufstieg zu suchen, und ich ließ den einen Fuß in die Leere unter mir zurückgleiten. Da war nichts. Ich stand da, tastete mit dem Fuß nach einem Halt in der Luft und zog ihn dann zurück auf den Vorsprung, wo er gewesen war. Er wühlte sich wie ein Tier ein, und ich machte mich wieder an den Aufstieg. Mit der linken Hand erreichte ich etwas – einen Teil des Felsens – und begann mich hochzuziehen. Ich kam aber nicht hoch. Ich ließ die rechte Hand los und griff nach dem Gelenk der linken, deren Finger bebten und unter dem Gewicht nachließen. Ich bekam einen Zeh in den Felsen, doch das war alles, was ich erreichte. Ich sah nach oben und hielt inne. Die Wand schenkte mir nichts. Sie gab keinen Druck mehr zurück. Mir war etwas entzogen worden, auf das ich mich verlassen hatte. Das war es. Ich hing zwar, aber ziemlich unsicher. Ich konzentrierte mich ganz auf die Finger meiner linken Hand, aber sie ließen mich im Stich. Ich war an der überhängenden Stelle der Steilwand angelangt, und wenn ich sie nicht bald überwand, würde ich abstürzen. Für diesen Fall hatte ich einen Plan: Ich wollte im Fallen so kräftig wie möglich gegen den Felsen treten und versuchen, über den Vorsprung in der Tiefe hinaus in den Fluß zu fallen, in die glänzende Windung des Abgrunds. Doch auch wenn ich mich weit genug abstoßen konnte, war der Fluß in der Nähe des Ufers, wo ich aufprallen würde, sicherlich zu flach, und das war fast ebenso schlimm, wie wenn ich auf die Steine aufschlug. Außerdem hätte ich mich noch von dem Bogen befreien müssen. Ich krallte mich fest. Nach einer Reihe kleiner, vorsichtiger Manöver wechselte ich die Hände in der Felsspalte und tastete mich mit der linken Hand nach oben, wobei der Bogen über meiner linken Schulter mir schwer zu schaffen machte. Ich mußte dabei an Filmszenen denken, in denen eine Hand in Großaufnahme verzweifelt nach etwas greift – beispielsweise durch ein Gefängnisgitter nach einem Schlüssel oder aus Treibsand heraus nach einem Menschen oder nach festem Boden. Ich fand nichts. Ich verlagerte mein Gewicht wieder auf die andere Hand und probierte die Felswand zu meiner Rechten aus. Ich fand nichts. Ich versuchte es mit dem hängenden Fuß, in der Hoffnung, genügend Halt zu finden, um mit den Händen einen größeren Teil des Felsens untersuchen zu können, aber auch das gelang mir nicht, obgleich ich mit dem Fuß und dem Knie ständig in Bewegung war und suchte. Mein linkes Bein zitterte schrecklich. Meine Gedanken überstürzten sich in nutzloser Panik. Der Urin in meiner Blase wurde schwer und schmerzte und rann dann in einem sexuell befriedigenden Erguß an mir herunter wie bei einem feuchten Traum. Etwas, woran man nichts ändern kann und was einem niemand vorwerfen kann. Es blieb nichts übrig, als sich fallen zu lassen. Meine letzte Hoffnung war, aus einem Traum zu erwachen. In Gedanken hatte ich schon losgelassen, aber meine Wut hielt mich noch. Wenn ich noch Bewegungsfreiheit gehabt hätte, hätte ich sicher etwas Verzweifeltes getan, aber ich war in meiner Position wie festgenagelt: ich konnte nichts Verzweifeltes tun. Doch wenn ich etwas unternehmen wollte, mußte ich es jetzt tun. Ich preßte die wenige Kraft, die mir noch geblieben war, in die Muskeln meines linken Beines und arbeitete so verbissen wie möglich. Ich hatte keinen Halt am Felsen und kämpfte mit der Wand um alles, was ich ihr abtrotzen konnte. Eine Sekunde lang riß ich mit beiden Händen an ihr. Der Bruchteil eines Gedankenblitzes befahl mir, keine Faust zu machen, sondern die Hände geöffnet zu halten. Ich hatte es mit einer Oberfläche zu tun, die so ebenmäßig wie ein Gedenkstein war, und ich glaube noch immer, daß ich eine Zeitlang in der Luft hing, nur von meinem Willen gehalten, im Kampf gegen den riesigen Felsen. Dann schien sich unter einem Finger meiner rechten Hand eine Spalte aufzutun. Ich glaubte fest, daß ich den Felsen selbst gespalten
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