Flußfahrt
konnte, war ich jetzt ungefähr fünfzig Meter über dem Fluß, und wenn ich es bis hierher geschafft hatte, konnte ich auch den Rest schaffen, obwohl die Wand hier oben steiler war als unter mir. Ich muß Ausschau halten. Das ist alles, was in diesem Augenblick zu tun ist. Das ist alles, was zu tun ist und was getan werden muß. Was für eine Aussicht, sagte ich wieder, als ich hinunterblickte. Der Fluß war glatt und von unbeseelter Schönheit. Er war das Schönste und Erhabenste, was ich je gesehen hatte. Aber es war nicht nur Sehen. Es war plötzlich nicht mehr nur Sehen. Es war Wahrnehmen, Aufnehmen. Ich nahm den Fluß in seinem eisig strahlenden Abgrund, sein fernes Tosen, seine Gleichgültigkeit, seine langgezogene Windung und die kleinen Lichttupfen des Mondes darauf, den langen, gewundenen Lauf mit seiner teilnahmslosen Zielstrebigkeit in mich auf. Was war da unten? Nur dieser erschreckende Glanz. Nur ein paar Felsen, so groß wie Inseln, der eine umgeben von einem roten Gürtel, wie mir schien. Der Gürtel beschrieb die Umrisse eines Gesichts, eine Art Gott, er war wie das Layout für eine Anzeige, war eine Skizze, Bestandteil eines Entwurfs. Er war wie ein leuchtender Faden unter den Augenlidern, wenn die Sonne darauf scheint. Der Felsen vibrierte wie glühende Kohle, denn ich wollte, daß er vibrierte, gefangen in seinen pulsierenden Umrissen, und er pulsierte in mir. Vielleicht hatte er eine gewisse Ähnlichkeit mit meinem Gesicht, so wie es auf Fotos wirkt, wenn es von unten her künstlich beleuchtet wird. Mein Gesicht – warum eigentlich nicht? Ich kann es so aussehen lassen, wie ich will: eine Art Dreiviertelansicht, von vorn gesehen, umgeben von einem Mondhof. Unter Umständen hätte es etwas gestellt gewirkt, etwas affektiert, aber auf jeden Fall war es etwas anderes als jedes Bild, das mir ein Spiegel zeigen konnte. Ich glaubte das vorgeschobene Kinn zu sehen, das mit dem Fluß und dem Felsen vibrierte, aber es mochte auch ein Lächeln sein. Ich schloß die Augen und öffnete sie wieder, und der Gürtel um den Felsen war verschwunden. Aber er war dagewesen. Ich fühlte mich besser. Ich fühlte mich prächtig, und die Furcht war im Zentrum meines Fühlens: Furcht und Vorahnung – es ließ sich nicht sagen, wo das alles enden sollte. Ich kehrte zurück. Ich kehrte zurück zu der Wand, zu der Felswand, zurück zu meiner Situation, und ich versuchte mir vorzustellen, wie hoch mir die Wand erschienen war, als ich sie zum letztenmal bei Tageslicht gesehen hatte. Ich überlegte, in welcher Höhe ich mich jetzt wohl befand. Ich glaubte, mindestens drei Viertel der Strecke hinter mir zu haben. Vielleicht, so dachte ich, konnte ich mich in der Spalte aufrecht hinstellen. Dann hätte ich einen weiteren Meter gewonnen. Warum nicht? Gab es über mir einen Halt? Und wenn ich mich hochziehen konnte, war dann nicht alles möglich? Ich streckte eine Hand aus und fühlte den oberen Rand der Felsspalte. Fels, was hast du mir noch zu bieten? sagte ich. Er fühlt sich gut an. Er fühlt sich an wie etwas, auf das man hinaufgelangen könnte, wenn man vorher ein Stück nach links kröche und für einen Augenblick den Tod riskierte. Dieser Augenblick wird kommen, aber das ist nicht schlimm. In den vergangenen Stunden habe ich so viele ähnliche Augenblicke überstanden; so viele Entscheidungen habe ich treffen müssen, so oft haben sich meine Finger über diesen ausdruckslosen Felsen getastet, und so oft haben meine Muskeln mit dem Gestein gerungen. Wo war Drew? Er pflegte zu sagen, und das war der einzige interessante Gedanke, den ich ihn je hatte äußern hören, daß Blinde am besten Gitarre spielen könnten: Männer wie Reverend Gary Davis, Doc Watson und Brownie McGhee, der den Tastsinn in einem Maße entwickelt hatte, wie ihn Sehende nie zu erreichen vermochten. Etwas Ähnliches habe ich jetzt auch, sagte ich mir. Ich habe geschafft, was zu schaffen war, und ich habe es bis hierher mit dem Tastsinn geschafft, mitten in der Dunkelheit. Ob sie noch dort unten sind? Ob Lewis noch immer den Kopf im Sand wälzt? Ob Bobby noch neben ihm auf dem Felsen sitzt und angestrengt überlegt, was er tun soll? Ob er den Kopf in die Hände gestützt hat oder das Kinn energisch vorstreckt? Glaubt er auch jetzt noch, wir kämen alle mit heiler Haut davon? Wer kann das wissen? Immerhin haben wir einen Plan gemacht, und das war alles, was wir tun konnten. Wenn er nicht funktioniert, wird man uns wahrscheinlich alle töten, und wenn
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