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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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auf der einen Seite, der Applaus auf der anderen, und ich mittendrin, hoch oben in der Luft, ganz allein auf dem Drahtseil. Ich stellte mir vor, dass irgendwo der Platz einer Seiltänzerin freigeworden sein musste, seit Elvira Madigan mit ihrem Leutnant davongelaufen war. Es kümmerte mich dabei wenig, dass diese Geschichte schon bald zwanzig Jahre zurücklag – romantische Träume mussten sich nicht um die Realität scheren. Manchmal erschien mir Elvira mit ihrem süßen Gesicht und dem langen, offenen Haar, um das ich sie so sehr beneidete, und flüsterte mir zu, dass sie das alles nur für mich getan hatte, damit ich zum Zirkus gehen konnte. Ich habe Elvira nie verstanden. Wer rennt denn mit einem Leutnant davon, wenn er auch auf dem Seil tanzen kann? Dass sie sich am Ende beide erschossen haben, geschah ihnen nur recht.
    Ich tat mein Bestes, um diesen Traum eines Tages Wirklichkeit werden zu lassen. Auf der offenen Galerie im ersten Stock versuchte ich, wann immer ich mich unbeobachtet fühlte, auf dem Geländer zu balancieren. Dass mir ein Sturz alle Knochen brechen konnte, und den Hals noch dazu, machte es erst recht zu einer Herausforderung. Ich tänzelte über Mauern und Brüstungen, doch ich musste aufpassen, dass mich niemand dabei erwischte – Miss Mountford hatte wenig Verständnis für den Zirkus, und für Seiltänzerinnen noch weniger, aber am allerwenigsten für Mädchen, die ihr Haar lang und offen trugen mit Ponyfransen, die ihnen in die Augen hingen wie bei meiner lieben Elvira. Aber in Gedanken war ich immer beim Zirkus, dachte manchmal, dass es vielleicht auch ganz schön wäre, Akrobatik auf dem Rücken eines galoppierenden Pferdes auszuüben, und fragte mich, ob eine Seiltänzerin auch eine Nebenbeschäftigung haben konnte. Ich war nicht wie die anderen Mädchen, obwohl ich, St. Margaret’s sei Dank, genauso wie sie aussah.
    Als also an jenem Tag der Gentleman kam und wir uns alle in der Halle aufstellen mussten, blieb ich ruhig, auch als sein Blick mich musternd streifte, und hörte nur die Herzen um mich herum pochen. Ich musste zugeben, er sah schon gut aus, dieser dunkle Fremde, aber für einen Zirkusdirektor war er falsch gekleidet: Der schwarze Anzug ließ ihn eher wie einen Bestatter wirken, und so war er mir doch recht egal in dem Moment.
    »Mädchen«, sagte Miss Mountford, »dies ist Mr. Molyneux, der gekommen ist, um euch in Augenschein zu nehmen.« Klang es nicht ganz wie bei einer Landwirtschaftsausstellung? Wer von uns würde wohl den Preis für die fetteste Sau erhalten – keine, denn dafür waren wir alle zu dünn – und wer den für die Kuh mit den schönsten Augen? Ich sah, wie zu meiner Linken die lange Mildred in den Knien einknickte, um kleiner und niedlicher zu wirken, während zu meiner Rechten die zierliche Colleen auf die Zehenspitzen ging und die Brust herausstreckte – solange wir nicht wussten, wofür der Gentleman gekommen war, konnten alle nur raten, was er sehen wollte. Ich blieb stehen, wie ich war. Aber sollte er fragen, wer über das Treppengeländer balancieren konnte, ich würde springen, sofort.
    »Meine lieben Mädchen«, sagte der Gentleman. »Waisenkinder, allesamt.« Als wüssten wir das noch nicht … abgesehen davon, dass es nicht stimmte. Nicht für alle, jedenfalls. Um ein Waisenkind zu sein, musste man überhaupt erst einmal Eltern gehabt haben. »Wie zuvorkommend von euch, dass ihr euch hier versammelt habt.« Seine Stimme war leise und samtig, ein bisschen melancholisch, aber bei den dunkel umrandeten Augen war auch kaum etwas anderes vorstellbar. »Meine Schwester und ich sind auf der Suche nach einem Mädchen … einem ganz besonderen Mädchen.«
    Seine schmalen Mundwinkel hoben sich bei den Worten, und die Herzen um mich herum pochten lauter. Schwester! Schwester hatte er gesagt, nicht Gattin! Sollte er am Ende noch zu haben sein? Ich schüttelte den Kopf, aber so, dass es niemand merkte. Er mochte ein Gentleman sein, aber mir war er viel zu alt.
    »Meiner Schwester Gesundheit ist angegriffen«, fuhr er fort, »und so war es ihr nicht möglich, mich hierher zu begleiten, dass nun die schwere Bürde, die Richtige unter euch zu finden, auf mir liegt.« Während er sprach, wanderte sein Blick von einer zur anderen und blieb auf jeder gleich lang liegen, egal ob sie sich für ihn groß oder klein machte. »Eine Frage bat sie mich jedoch, euch zu stellen.« Er machte einen Schritt zurück, um uns alle gleichzeitig erfassen zu können, sechzig

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