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Flut: Roman (German Edition)

Flut: Roman (German Edition)

Titel: Flut: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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stattdessen mussten wir um die nächste Straßenecke gehen, was mich ein wenig wunderte – vor dem Waisenhaus war schließlich genug Platz. Die Kutsche war ein schwarzes Coupé, das zum Glück geräumig genug aussah, dass Mr. Molyneux und ich darin nicht Knie an Knie würden sitzen müssen. Da er mich keines weiteren Blickes gewürdigt hatte, kaum dass sich die Türen von St. Margaret’s hinter uns schlossen, ahnte ich, dass die Fahrt sonst arg ungemütlich geworden wäre – und auch so erwartete ich keine vergnügte Landpartie.
    Der Kutscher, dem sein Zylinder Regenschutz genug zu sein schien, stieg vom Bock, um seinem Herrn die Tür zu öffnen und ihm in die Kutsche zu helfen. Ich ließ Mr. Molyneux einsteigen und wartete darauf, dass ich selbst hineingebeten wurde, irgendwann musste er ja wieder mit mir sprechen. Was er mit mir vorhatte, wusste ich nicht, und das machte mich unsicher und, wenn nicht gleich ängstlich, doch zumindest argwöhnisch. Zum Freuen war es wohl noch zu früh. Er hatte nicht davon gesprochen, ob er das Mädchen, das er suchte, als Tochter annehmen wollte oder als Zofe für seine Schwester einstellen. Es war alles sehr rätselhaft, und ich hatte zu viele Schauerromane gelesen, um nicht, argwöhnisch wie ich war, vom Schlimmsten auszugehen, und Schlimm war ein weites Feld. Es gab sehr wenig, was ich Mr. Molyneux in diesem Moment nicht zugetraut hätte, aber ich versuchte, das nicht an mich herankommen zu lassen. Was auch immer mich erwartete, ich durfte keine Angst haben. Selbst wenn meine Zukunft düster aussah, düster war auch das, was ich hinter mir hatte: Ich war aus St. Margaret’s entkommen, und die volle Reichweite dessen ging mir nur langsam auf. Was immer ich bei Mr. Molyneux sein würde, ich war keine Niedere Tochter mehr.
    »Steig ein«, sagte der Kutscher zu mir. »Soll ich dir helfen?«
    Würdevoll schüttelte ich den Kopf. Eine Seiltänzerin schaffte es allemal, allein in ein Coupé einzusteigen. So turnte ich elegant in die Kutsche, froh, niemandem zu viel Arbeit zu machen, und überlegte im Geiste, was ich zu Mr. Molyneux sagen sollte, wenn wir uns gleich auf diesem engen Raum gegenübersaßen. Aber stattdessen fand ich mich Auge in Auge mit einer fremden Lady wieder.
    Sie war wunderschön und sehr blass, was natürlich daran liegen konnte, dass es in der Kutsche ziemlich schummrig war; Licht fiel vor allem durch die noch offene Tür hinein, aber als der Kutscher diese hinter mir schloss, wurde es dunkel um mich. Offenbar waren die kleinen Fenster geschwärzt worden – wie passend für ein finsteres Gefährt mit einem Gespann schwarzer Pferde. Aber wenn die Lady kränkelte, vertrug sie vielleicht kein Tageslicht. Und wenn sie immer in verdunkelten Kutschen saß, musste man sich nicht wundern, dass sie blass war.
    Sie trug einen ausladenden Hut nach der neuesten Mode, die immer einen Ausgleich dafür finden musste, dass die Kleider auf den ersten Blick so schlicht und reizlos aussahen und die Frauen so schmal machten. Farblich lag er irgendwo zwischen rosa und flieder, ebenso wie ihr Kleid, aber anders als der Hut war dieses ganz und gar altmodisch ausladend und nahm mit seinem Reifrock die halbe Kutsche ein. Neben ihr auf der Bank, im Schatten kaum zu sehen, hatte der Gentleman Platz genommen, und als das Coupé mit einem Ruck anfuhr, setzte ich mich eilig ihnen gegenüber und fuhr, mit dem Rücken voran, ins Ungewisse.
    »Das ist sie also?«, fragte die Lady.
    »Das ist sie«, wiederholte der Gentleman. Und ich bildete mir ein, dass sie beide ein bisschen zu skeptisch dabei klangen, vielleicht sogar missbilligend, aber was immer sie stören mochte, es war nichts, was zu ändern in meiner Macht lag. Trotzdem, es verletzte mich. Sie hätten so viele Mädchen haben können und ausgerechnet mich genommen – dann mussten sie jetzt auch damit leben, dass ich ich war und nicht wie die anderen.
    Ich zog mich etwas tiefer in die Schatten zurück. In meinen Träumen stand ich zwar im Licht, und alles jubelte mir zu, aber ich war selbst auch tüchtig im Beobachten, eine Kunst, die jedes gut ausgebildete Waisenmädchen beherrschen sollte: Nicht aufzufallen, wenn ich nicht auffallen wollte, hatte mich schon an manchem Tag gerettet, sei es vor Miss Mountford, der Köchin oder auch nur einem älteren Mädchen. Mr. Molyneux konnte sich ruhig mit seiner Schwester unterhalten; mir sollte das nur recht sein.
    »Die Einzige?«, fragte die Lady.
    »Ich hatte noch zwei andere im Verdacht«,

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