Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
wie eine Mischung aus family und Familie.
Dreimal zog die dunkle Vokalwolke über mich hinweg.
Fami-lyyy-e
Fami-lyyy-e
Fami-lyyy-e
Irgendetwas suchte ich bei meiner Großmutter, für das es in meinem Leben sonst keinen Platz gab. Der Ehrgeiz, einem Menschen ohne Wünsche gefällig zu sein, der Wille, sich einer Willenlosigkeit zu unterwerfen, die vollständige Selbstzurücknahme hätte jeden überrascht, der mich nur ein wenig kannte. Doch es war nicht ihre Gesellschaft, die ich suchte. Wir redeten ja kaum miteinander. Ich kann mich nicht erinnern, Großmutter je einen Ausdruck des Wohlgefallens oder ein Lachen entlockt zu haben. Mein Lob für das Mittagessen wiegelte sie jedes Mal ab. Wenn ich ihr anstandshalber irgendeine Frage stellte, sagte sie immer zuerst: Ach ja. Und das war dann oft schon die ganze Antwort. Auch für ihr Leben interessierte ich mich nicht wirklich. So wenig wie sie sich für meines.
Ich glaube, es ging mir um das Haus. Um die alte Frau in dem alten Haus.
Zumindest würde das erklären, warum es mich erst zu ihm hinzog, als ich dort niemanden mehr antreffen konnte außer meiner Großmutter. Sicher, in einer verqualmten Büroetage unter dem Dach hockte noch M41, der älteste Bruder meines Vaters: gelb, gebeugt, einen ausgeleierten Pullover voller Aschekrümel über dem dicken Bauch, dem Bankrott so nah wie seine Mutter dem Tod; und irgendwo dazwischen, in einer herrschaftlichen Wohnung hoch über dem Fluss, rächte sich auch noch der von ihm betrogene Kleinfamilientorso, indem er einfach blieb. Aber diese Bewohner schienen mir so zufällig, dass man über ihre Existenzhinwegsehen konnte. In der alleinigen Gesellschaft meiner müden Großmutter aber öffnete sich das Haus und lud zum Verweilen ein.
Große Häuser, alte zumal, sind selten einladend. Wohl locken sie den Besucher, aber kaum ist er eingetreten, weisen sie ihn in seine Schranken. Große Häuser sind anspruchsvoll, das ist die Regel. Sie werden gebaut, um Unterschiede fühlbar zu machen: von drinnen und draußen, von Gast und Besitzer, von Notwendigem und Erhabenem, von Zweck und Macht. Der Einlass ist ein Privileg. Im Innern herrscht eine unverrückbare Ordnung, die dem Recht des Besitzers, die Wege seiner Gäste zu bestimmen, Geltung verschafft. Und wie gebieterisch kann solche Herrschaft sein, wenn sie von einer Gemeinschaft entlehnt ist! Wenn die Gemäldesammlung in der Treppenhalle Ahnengalerie heißt. Das erste Gebot für Besucher der Weserstraße 84 hieß: Du darfst niemals tun, was du willst. Und das hieß auch: Du bist nie für dich allein. Jederzeit wurde etwas erwartet. Nur selten beim Namen genannt, waren diese Erwartungen spürbar wie ein Kraftfeld, in das man sich schon mit der Anreise hineinbewegte. Den Stimmen der Eltern im Auto war anzumerken, ob wir die norddeutsche Tiefebene durchquerten, um, wie oft und meistens, die mütterliche oder, wie fast nur an Festtagen, die väterliche Familie zu besuchen. Klang das eine Ziel – »Leuchtenburg« – nach Freiheit und Weite, so löste der Name »Vegesack« Vorahnungen von Verzicht aus und das Gefühl, um einen schulfreien Tag betrogen zu werden. Niemand von uns wollte da hin. Das hätte vielleicht sogar mein Vater zugegeben, wenn meine Mutter ihn nicht in die Enge getrieben hätte. Die chronische Enttäuschung ihrer Schwiegereltern im Voraus vergeltend, suchte sie nach Anlässen, sich über die Familieihres Mannes zu beklagen. Dabei hatte sie an ihr eigentlich nur auszusetzen, dass es sie gab.
Die Feste, die in meiner Erinnerung zu einem einzigen langen Tag verschmelzen, fühlten sich niemals festlich an. Das beherrschende Gefühl war Vorsicht. Besonders die Allgegenwart von W36, der ältesten Schwester meines Vaters, schüchterte mich ein. (Ich musste erwachsen werden, um sie schätzen zu lernen.) Was auch immer man gerade tat, jederzeit konnte sie einem zu verstehen geben, dass noch längst nicht alle Beiträge zum Gelingen des hohen Tages erbracht worden waren. Getrieben vom schicksalsergebenen Ehrgeiz einer Zeremonienmeisterin bei Hofe lieferte sie einen Beweis ihrer Unersetzlichkeit nach dem anderen. Fortwährend wies sie an, tat so, als schlüge sie vor, wo sie tatsächlich befahl, verpasste Gesprächen, an denen sie gar nicht teilnahm, im Vorbeigehen angemessene Themen und Dosierungen, schob kuchen- und schüsseltragende Körper durch das Haus, nahm eine letzte Konzertprobe ab, klatschte in die Hände, rief zum Essen. Und dann brachte sie sich selbst in
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