Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
konturierterGestalt: Auf den halbrunden Rümpfen standen in einer kleinen Ausbuchtung wuchtige Schornsteine, streng senkrecht natürlich. Die beiden Elemente waren farblich klar voneinander geschieden: links blauer Schlot auf rotem Boot, rechts blaues Boot unter rotem Schlot. Sonst nichts. Kein Rauch, kein Wasser, kein Himmel, keine Sonne, keine Menschen. Nur zwei bunte Dampfer auf weißem Papier.
Als flögen sie durch eine Wolke.
Auch diesem Anblick war ich zunächst nicht gerecht geworden. Das Bild hatte mich begeistert und auch ein wenig mit Vaterstolz erfüllt, darum hatte ich es ja gleich fotografiert – aber nur seiner Ausführung wegen. Dem Sujet hatte ich überhaupt keine Beachtung geschenkt. Dabei war es nicht irgendein Gegenstand, sondern das Leitmotiv unseres Familienmythos. Und er war auch nicht irgendwo gemalt worden. Über dem Wohnzimmertisch, an dem Helene gesessen hatte, hing ein Ölporträt aus der Biedermeierzeit. Düsseldorfer Schule. Es zeigte Diedrich Lange, den Enkel des berühmten Schiffbauers. Mein Vater hatte es von seinem Onkel geerbt, den er als Kind in den Ferien jeden Tag auf die einst familieneigene Werft begleitet hatte. Natürlich war das alles Zufall. Aber ich war erstaunt, dass es mir damals nicht aufgefallen war. Jetzt aber berührte es mich ähnlich stark wie kurz zuvor die Begegnung mit der Diesbar, weniger eindrücklich, aber dafür umso tiefer. Beide Erlebnisse, das stille Dahingleiten des echten und der surreale Wolkenflug der gemalten Dampfer, schienen mir durch eine geheimnisvolle Spannung miteinander verbunden. Enthielt nicht das Bild ebenso viel Wahrheit wie die Wirklichkeit? War vielleicht S. auf seine Weise genauso ahnungslos wie ich? Waren wir nicht beide Banausen, ich in der Welt der Maschinen, er in der Welt der Bilder? Warnicht auch das erste deutsche Dampfschiff einmal ein Bild gewesen? Hatte Johann Lange während der Kontinentalsperre nicht herbeiphantasieren müssen, was in Amerika und England schon seit Jahren Realität war? Gab es die Weser nicht längst, als er 1816 mit ihrem Bau begann? Und war sie nicht wieder zum Bild geworden, als sie langsam, erst Faden für Faden, dann Meter für Meter, im Meer der Erinnerung versank: beim Abwracken 1833, beim Stapellauf des Nachfolgeschiffs, der Bremen , 1834, beim Verkauf der Werft 1893, bei der Inbetriebnahme des ersten Schiffsdiesels 1902, beim Fall der Mauer 1989, beim Verkauf der Villa 1993, bei der Insolvenz des Vulkan 1996, immer tiefer, bis sie den Grund aller Zwecke erreicht hatte?
Die letzten Passagiere der Weser gingen am 14. November 1833 in Brake an Bord. Welches Wetter an diesem Tag herrschte, ist unbekannt. Es bleibt also unserer Einbildung überlassen, ob die Marschwiesen, die beide Ufer bis Vegesack säumen, in für die Jahreszeit typischen Dunst gehüllt waren. Ob ein kalter Regen fiel, der womöglich sogar in Schlackerschnee überging, wie es beispielsweise für den 14. November 1942 verbürgt ist. Oder ob es einer der seltenen Herbsttage war, an denen im Großherzogtum Oldenburg und im Königreich Hannover die Sonne schien und die Fahrgäste auf dem hinteren Kajütsdeck hätten beobachten können, wie Brake sich ganz allmählich, Meile für Meile, aus ihrem Blickfeld entfernte. Bei dem fast kanalartig geraden Verlauf des nördlichsten Weserabschnitts wäre das durchaus möglich gewesen.
An der Weser, Unterweser
Wirst du wieder sein wie einst.
Durch Geschilf und Untergräser
Dringt die Flut herein, wie einst.
Deine Mutter, alte Mutter
Bringt das Abendbrot wie einst
Und du isst die frische Butter
Auf dem schwarzen Brot, wie einst.
Große Dampfer, ferne Dampfer
Rufen durch die Nacht wie einst,
Und die Kammer riecht nach Kampfer,
Und du bist erwacht, wie einst.
Und die Sterne, sieben Sterne
Stehn im Fenster blass wie einst,
Und noch immer ruft’s von ferne,
Und du weißt nicht was, wie einst.
Informationen zum Autor
© Alexa Geisthövel
Per Leo , geboren 1972 in Erlangen, hat Geschichte, Philosophie und russische Philologie studiert und wurde 2009 mit einer Arbeit über Ludwig Klages und die Tradition des charakterologischen Denkens promoviert. 2011 erhielt er für seine Dissertation den Humboldtpreis – Sonderpreis »Judentum und Antisemitismus«. Leo lebt mit seiner Familie in Berlin und arbeitet als freier Autor und Schatullenproduzent.
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