Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Cousinen der Großeltern an, darunter solche, die ich nie zuvor gesehen hatte. Brach über einer solchen Runde im Magazin die Dämmerung herein, fing sie unweigerlich zu singen an.
Keinen anderen Moment der Familienfeste fürchtete ich so wie diesen, kein anderer Moment war so verheißungsvoll. Während alle anderen mit dem Haus verbundenen Erwartungen sich anfühlten wie ein Nebel, in dem man sich tageweise verfing, war das Mitsingen ein echter Zwang. Wenn es ein einziges nicht nur behauptetes Heiligtum dieser Familie gab, dann war es der Gesang. Ich wusste das, weil ich mich ihm verweigerte. Ein unbezwingbares Schamgefühl hinderte mich daran, in den familiären Gesang einzustimmen. Kein Bitten, kein Mahnen, keine enttäuschten Blicke, keine Aussicht auf väterliche Verstimmung konnten mich von dieser Weigerung abbringen. Dabei war mir klar, dass die Freiheit vom Gesang nur um die Scham des Versagens zu haben war. Und um die Schuld des Verrats. Die Enttäuschung des Kollektivs wog schwer, und es war unmöglich, aus dem Kampf mit seinen Erwartungen als Sieger hervorzugehen. Doch das heißt nicht, dass es nichts zu gewinnen gab. Ich wusste, was ich nicht wollte, nämlich mit diesen mir innerlich fremden Menschen im Gesang verschmelzen; aber ich wusste auch, was ich wollte. Ich wollte der Familie meines Vaters beim Singen zuhören.
Das erste Lied war reine Qual. W36 sah in die Runde, wechselte Blicke mit den Führern der zweiten und drittenStimme, um dann die Versammelten auf die einzige Reise mitzunehmen, die sie gemeinsam antreten konnten – eine Reise, die weg von der Wirklichkeit führte: je länger, desto weiter. Je weiter, desto enger. Während der Gesang bis zur hohen Decke anstieg, sah ich den strengen Blick meines Vaters, dann spürte ich den Druck seiner Hand auf meinem Arm. Mich selbst hörte ich schweigen. Zwischen dem ersten und dem zweiten Lied wirkte der Missmut meines Vaters noch bedrohlich, aber ich wusste, dass sein Widerstand nachlassen würde, wenn ich den meinen bis zum dritten Lied aushielt. Und dann war ich frei. Und hörte etwas, das sich mit nichts vertrug, was ich sonst von diesen Leuten kannte. Wie viel Vergessen lag in dieser gewaltigen Einstimmigkeit! Wie viel Nachsicht, wie viel Entgegenkommen, wie viel Vertrautheit in dieser sicheren Vielstimmigkeit. Welches Wissen um Verluste, deren Endgültigkeit nur in Momenten wie diesem überhaupt auszuhalten war, wenn mit dem Vergessen auch die Erinnerung kam – wie viel Wehmut lag im Refrain. Ich will nicht behaupten, dass mir das bewusst war, als ich mich hinter das tief herabhängende Tischtuch der langen Kaffeetafel verkrochen hatte. Doch ich spürte das Gift der Romantik. Und ich ahnte die Heide. Die Landschaft, in der Großvater seine Frau gefunden hatte. Die Welt, aus der mein Vater kam.
Kein schöner Land in dieser Zeit
als hier das uns’re weit und breit
wo wir uns finden
wohl unter Linden
zur Abendszeit.
Natürlich ist es Zufall, dass die einzige Gelegenheit, bei der ich je frei von Scham und hingebungsvoll singen konnte, sich nur wenige Kilometer stromaufwärts in einem anderen Gebäude am selben Ufer desselben Flusses fand. Als mein Freund Sven Waas mich an einem milden Freitagabend, es war der 12. April 1985, ein Tag nach Großvaters 77. Geburtstag, zum ersten Mal in die Ostkurve des Weserstadions mitnahm, hatte ich darin zunächst nur einen Abstieg gesehen, den Verzicht auf einen Sitzplatz im Oberrang, den man ja immer geschenkt bekam, wenn man irgendwelche Väter oder Onkel zu Werder begleitete. Es sollte fast zwanzig Jahre dauern, bis ich im Stadion wieder saß, nun selbst einer der Männer, die Kindern Karten kaufen, um den Keim der Gemeinschaft in ihnen zu pflanzen. Denn was tatsächlich passierte, war dies: Ohne einen Moment des Zögerns wurde ich schon lange vor Spielbeginn Teil eines tausendstimmigen Chores, der grobschlächtig und frei sang, allein um gehört zu werden. Mich überraschte das mit der Macht einer Offenbarung. Dass man sich einem kollektiven Singen nur schwer entziehen kann, war mir aus der Weserstraße bekannt. Das Neue im Weserstadion war, dass sich mit dem Pflichtgefühl auch ein Gefühl der Verantwortung einstellte. Sich an diesen Gesängen nicht zu beteiligen wäre schlicht fahrlässig gewesen. Es ist ja alles andere als blasphemisch, wenn man den Fangesang in die Nähe des Kirchenliedes rückt. Denn beide sind so viel mehr als nur ein Ausdruck – einer Stimmung, eines Glaubens, einer Wahrheit
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