Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
schmerzhaft schleppenden Schwere ihrer Bewegungen war sie greifbar geworden. Meine Müdigkeit hingegen war verflogen. Ich hatte in Freiburg endlich, endlich! die Versatzstücke eines sogenannten Lebens in Freiheit gefunden, und nun trug ich sie wie Orden mit mir herum. Schon seit dem Ende des Sommers fühlte ich mich einigermaßen unantastbar. Außerdem wussten wir beide, dass dies unser letztes Treffen in Vegesack sein würde. Wenn ich mich richtig erinnere, fand der Mittagsschlaf nicht statt. Oder er fiel dem Notstand geschuldet kürzer aus als sonst. Das Haus in der Weserstraße war im Begriff, die Leos auszuspucken, und nun mussten die Dinge der Großeltern von ihren Räumen getrennt werden. Noch einmal Butterkuchen am Wohnzimmerfenster, dann legte ich die Axt an die mit ihrer Umgebung verwachsenen Gegenstände, dann begann ich das, was ich gerade zu mögen begonnen hatte, zu zerstören.
Welche Bücher sollen mit in die Heide?
Egal, die Goethebiographie vielleicht, sonst alles egal.
Nimm dir, was du willst, sagte sie noch. Es war die Aufforderung, auf die ich seit Jahren gewartet hatte, ohne mir dessen bewusst zu sein. Natürlich wusste ich, dass Großvater ein Nazi gewesen war. Und ich wusste es nicht. Warum hatte mich das nie interessiert? Ich studierte Geschichte, ich hielt mich für links. Warum hatte ich meinem Vater, mit dem ich über fast alles stritt, nicht die Daumenschrauben angelegt? Warum hatte ich ihm nicht zugesetzt damit, dass er mit seinem Vater nie ins Gericht gegangen war? Warum hatte ich nie den Vorhang angehoben, der die beiden untersten Fächer des Bücherregals verdeckte?
Dicker, blauweiß bedruckter Stoff: Das Bild dürfte zu meinen ältesten Erinnerungen an die Weserstraße gehören. Der Vorhang war ja für das kleine Kind, wenn es den langen, raumartigen Flur zwischen Wohnungstür und Wintergarten entlangging, einer der wenigen Anblicke auf Augenhöhe. Doch dem Boden entwachsen, beugte ich mich nie mehr tiefer hinab als bis zu den Bildbänden über Fauna und Erdgeschichte. Ich sah den blauweißen Vorhang darunter, und ich sah ihn nicht. Hatte man mir den Blick dahinter verboten? Eher war es wohl einer der vielen Zauber des Hauses, der bewirkte, dass man nicht fragte, was denn auf dieser noch niemals freigegebenen Bühne gespielt wurde. Und nun kniete ich auf dem Fußboden und tat einfach, worum Großmutter mich gebeten hatte. Ich sortierte die Bücher in solche, die sie behalten, und solche, die ich mitnehmen wollte. Alle Bücher. Auch die hinter dem Vorhang.
Es war, als hätte ich all meine Zurückhaltung den Großeltern gegenüber im erstbesten und zugleich letztmöglichen Moment aufgegeben. Als das erste und einzige Mal nicht alles wie immer war. Wie in einem dieser Filme, in denen ein Schatz in genau dem Augenblick gefunden wird, in dem die ihn bergende Höhle sich mit Wasser füllt, raffte ich den gesamten Inhalt des Giftschranks hinter dem Vorhang an mich, murmelte ein paar Sätze zu meinem Interesse an der Zeitgeschichte und packte den Stoff in Kisten, die ich sofort im Auto verstaute, als fürchtete ich, Großmutter könne jeden Moment zu sich kommen und begreifen, was sie mir da erlaubt hatte. Sie kannte ja die offenen Flanken ihres Mannes. Ob es auch die ihren waren, hatte sie immer gut zu verbergen gewusst. Noch beim Kaffee hatte sie das Gespräch über Großvater gesucht, auch dies ein eklatanter Bruch mit den Regeln.Sie schien mir zu vertrauen – aber mit wem sonst hätte sie auch reden sollen? Ihr Vertrauen war riskant und voller Hoffnung. Sie wusste, dass es um das Nachleben ihres Mannes nicht zum Besten bestellt war; doch nun schien sie begriffen zu haben, dass auch ihr Nachleben davon berührt war. Merkte sie plötzlich, dass sie doch noch etwas wollte, etwas, das nicht mehr ihr Leben, sondern ihren Tod betraf? Und dann sagte sie doch nichts. Nicht mehr jedenfalls, als dass es offenbar eine Menge zu sagen gäbe. Auf keinen Fall solle ich alles glauben, was man über ihn erzähle. Ein wundervoller Mann sei er gewesen. Aber wer habe das schon wissen wollen? Einer wie er habe es eben nicht leicht gehabt in so einer Familie. Ein Aufmüpfiger! Idealist! Wie ihm seine Großmutter zugesetzt habe, nur weil er anders sein wollte! Und dann der Autounfall im Krieg! Die Medikamente für den Kopf! Ach. Aber jeder, der ihn vorher gekannt habe. Und die Politik! Ach, die Politik.
Genau, die Politik. Die hat mich auch schon immer interessiert, sagte ich. Die Natur dieses Interesses
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