Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Leo
Vom Netzwerk:
–, es sind Handlungen: Taten, die etwas zum Guten bewirken sollen. Beide haben einen Adressaten, von dessen Geschick das eigene Wohlergehen nicht unerheblich abhängt. Und so gaben unsere Gesänge an diesem herrlichen Aprilabend Zuversicht und Kraft (allenWerderanern). So ehrten sie und warben um die Gunst einer Vertragsverlängerung (Rudi Völler nach dem 1 : 0). So trösteten sie, auf dass die Kraft nicht versiege (Uwe Reinders nach dem verschossenen Elfmeter). So schmähten sie (den Gegner im Besonderen, die Bayern und den HSV im Allgemeinen). So schmeichelten sie (der ganzen Mannschaft nach dem 2 : 0). So dankten sie (Otto Rehhagel für das Wunder, das er hier vollbrachte). Und so versprachen sie Standfestigkeit und Treue (zu dem, was bleibt, wenn wir nicht mehr da sind):
    Werder Brem’, Werder Brem’, Werder Brem’
(Melodie: Here we go, here we go …)
    Werder Brem’, Werder Brem’, Werder Bre-men
    Werder Brem’, Werder Brem’, Werder Brem’
    O Werder Bremen, o Wer-der Brem’!
    Jeden einzelnen dieser Gesänge nahm ich mit in den Vorortzug nach Vegesack, auf die Heimfahrt nach München, in die Lateinstunde, auf den Tennisplatz, bis zur Radiokonferenz des letzten Spieltags, bis feststand, dass doch wieder Bayern Meister wird. Sie waren damit das genaue Gegenteil der Lieder im Magazin. Auf die Lieder im Weserstadion freute ich mich schon Wochen im Voraus, und spätestens auf dem Osterdeich, wenn es strömte und trommelte und aus der Ferne plötzlich das weiße Flutlichtfeuer herüberschien, war kein Halten mehr: Jetzt mussten sie raus. Jetzt galt es wieder. Der nächste Auftrag wartete, und mit stolzer Freude machten wir uns an seine Erledigung. Den Gesang in der Weserstraße dagegen verdrängte ich bis zum letzten Augenblick. Und wenn er einsetzte, ließ ich ihn über mich ergehen, ertrug sein Dröhnen, bis sein Klang mich endlich forttrug. Ausgerechnethier, mit Blick auf die Schuhe meiner Verwandten, Schönheit zu finden war ebenso erniedrigend wie überraschend.
    Als Großvater im Januar 1993 starb, neigte sich das lange Kapitel, das unsere Familie in der Geschichte dieses Hauses geschrieben hatte, seinem Ende zu. Knapp zwei Jahre Gnadenfrist waren Großmutter noch vergönnt, dann brach die Hypothekenlast über M41 zusammen. Kurz darauf brach Großmutter auf dem Postamt zusammen, für immer. Denn obwohl es für mich mit unserem Namen so untrennbar verbunden ist, als zierte sein Bild (und nicht das tanzende Löwenpaar) unser Wappen, ist es eine Tatsache, dass die Leos allein sich dieses Haus niemals hätten leisten können. Leisten konnten es sich die Langes. Die Leos, das waren seit bald vier Jahrhunderten Lutheraner mit Bildungstiteln. Die Langes, das war in diesem Fall eine Witwe mit Industrievermögen. 1909 hatte Elisabeth Lange das Anwesen in der Weserstraße ihrem Cousin, dem Bremer Reeder Friedrich Bischoff, abgekauft. Ihren Aktienbesitz musste sie dazu nicht antasten. Es reichte ein Teil des Betrags, den die Familie ihres früh verstorbenen Mannes ausgelöst hatte, als die Werft Lange & Söhne 1893 in die Gründungsmasse der Bremer Vulkan AG eingegangen war. Sie selbst bezog das Hochparterre; der Familie ihrer Tochter Gesine, meiner Urgroßmutter, überließ sie die Wohnräume im ersten Stock. Deren Ehemann Heinrich Leo, ein junger Gymnasialprofessor aus Thüringen, in dem man einen kommenden Gelehrten sah, durfte sich das Dachgeschoss als Bibliothek und Studierstube einrichten. Sechs Jahre lang wurde das Haus nun standesgemäß bewohnt. Seidenrock und Steckfrisur, Strohhut und Kaiserbart, Latinum und Matrosenanzug, Teekränzchen, Krocket und Piano – dreiGenerationen einer großbürgerlichen Bilderbuchfamilie unter einem Dach. Dann fiel Heinrich auf der Hügelkuppe Les Éparges, nicht weit von Verdun. Dann schmolz das Vermögen in der Inflation. Dann zerfielen die drei Stockwerke, die zuvor eine durch ein Haustelefon verbundene Einheit gebildet hatten, in familieninterne Parzellen. Wenn jemand starb, wurden sie neu verteilt.
    1973 starb Gesine. Davon abgesehen, dass sich ihr Sohn Heinz, mit dem sie über drei Jahrzehnte den ersten Stock geteilt hatte, nun selbst versorgen musste, blieb zunächst alles beim Alten. Und doch war das der Anfang vom Ende. Denn jetzt gehörte das Haus plötzlich meinem Großvater und seinen Brüdern. Vier gebürtigen Leos. Ein grandioses Missverständnis, das M41 mit dem Mut der Verzweiflung noch einmal zu verlängern suchte, als er im Grundbuch seinen Namen neben

Weitere Kostenlose Bücher