Flying Moon (German Edition)
stützte seinen Kopf in die Hand und sah mich offen an. »Ich würde dich gerne küssen.«
Er sagte es vorsichtig, aber auch, als ob das ganz klar war. So machte er das. Ein Träger meines Kleides rutschte von der Schulter und er schob ihn zärtlich wieder hoch. Er drängte mich nicht, er sah mich nur an und wartete. Ich rollte mich auf die Seite. Das Kleid klebte nass an meinem Körper, auf der Tagesdecke hatte ich einen feuchten Abdruck hinterlassen. Er beugte sich über mich und ich sank nach hinten. Im Spiegel erkannte ich mich kaum. Da war ein Tattoo zwischen seinen Schulterblättern. Ein Sonnenrad.
»Was bedeutet es?«
»Was?« Er rollte sich zurück auf die Seite und sah mich an.
»Dein Tattoo.«
»Ach das.« Er zuckte mit den Schultern, überlegte.
»Es ... erinnert mich an das Leben. Dass es immer weiter geht.«
»Immer weiter?«
»Ja, auch wenn du traurig bist, oder etwas schwierig ist. Es geht weiter und du ...«
»Was?«
»... wirst wieder glücklich sein.«
Er lächelte verlegen, aber ich verstand ihn genau.
»Wer hat es gemacht?«
»Mein Bruder.«
»Kann er das?«
»Nein.« Er grinste. »Er hat sich so ein Heimwerkerset gekauft. Er wollte das lernen für ... er wollte es einfach lernen. Er hat sich Vorlagen aus dem Internet geholt und ich durfte aussuchen.«
»Zum ersten Mal? Wie alt warst du?«
»Fünfzehn.«
»Und deine Eltern?«
»Die wissen es bis heute nicht.«
Das Tattoo war nicht perfekt, aber gerade das machte es interessant.
»Hattest du nicht Angst, dass er dich verletzen könnte?«
Er legte seine Hand auf meinen Körper und lächelte.
»Na ja, darum geht es doch beim Tätowieren.«
»Sich verletzen zu lassen?«
»Jemandem zu vertrauen.«
Er zog mich näher an sich und küsste mich leicht.
»Vertraust du mir?«
Ich schwieg.
Er ließ sich nach hinten fallen und breitete beide Arme aus.
»Aber ich vertraue dir. Du kannst mich jetzt töten oder lieben.«
Ich grinste. »Ich denke, in der richtigen Reihenfolge sollte ich beides schaffen.«
Die Stimme drang wie durch einen dichten Nebel zu mir. Weit weg, unbedeutend. Ich wollte nicht aufwachen.
»Moon?!«
Mein Vater. Aber mein Körper reagierte nicht.
»Moon!«
Ich hoffte, dass er mich nicht fand, einfach aufhörte zu suchen. Aber man brauchte nur den Wasserspuren auf dem Teppich zu folgen, um uns zu finden. Es war nur eine Frage der Zeit. Das Licht sprang an, wir blinzelten beide zur Tür.
»What in the ...«
Für einen Moment blickten wir uns alle wie erstarrt an, dann stürzte sich mein Vater auf ihn. Er packte seine Schultern, riss ihn hoch und drückte ihn hart aufs Bett.
»What are you doing? She is my daughter!«
Ich sprang auf. Ich hatte Angst, mein Vater würde zuschlagen, doch er ließ ihn los, zerrte mich am Arm die Treppe hinunter und schleppte mich vor die Tür, als wäre ich ein Kind, nein, ein Gegenstand.
»Pa!«
Er ließ erschrocken meinen Arm los.
»Home!«
»My jacket!«
Ich war erstaunt, dass mir die Jacke in diesem Moment überhaupt einfiel.
»Who cares!«
Draußen winkte er nach einem der wartenden Taxis und schubste mich hinein, dann fuhren wir nach Hause.
Der Abend wurde das große Thema für meine Eltern. Es wurde über Alkohol und Drogen geredet und über Sex, dabei war allen vollkommen klar, dass dieses Problem nur vorgeschoben war. Mein Vater holte meine Jacke später, die Schuhe blieben verschollen, es war der kleinste Verlust, das wusste auch meine Mutter, die mir keinerlei Vorwürfe machte.
Kurz darauf trennten sich meine Eltern. Meine Mutter zog mit uns erst nach Berlin zu einer Freundin und etwas später in eine kleine Wohnung nach Potsdam in die Nähe des Theaters, an dem sie eine neue Stelle als Bühnenbildnerin gefunden hatte. Mein Vater war verschwunden, angeblich in den USA, doch meine Mutter tat, als wäre er tot.
Ein Jahr später
2.
Es war eigentlich Frühling, April, manchmal richtig warm, aber dann schneite es auf einmal wieder. Es war wie in meinem Leben, es ging einfach nicht richtig los. Konnte ich mich nicht verlieben oder sich wenigstens irgendjemand für mich interessieren?
Hallo?
Ich schob mein Fahrrad das letzte Stück, ich war sowieso gleich zuhause. Ich hatte mich ganz gut an die neue Stadt und das neue Leben gewöhnt, natürlich fehlte mein Vater und alles war sehr viel anstrengender als vorher, Geld immer knapp, aber dafür war die Schule entspannt und Potsdam eigentlich ganz nett. Meine Mutter hatte eine günstige Wohnung in einem etwas
Weitere Kostenlose Bücher