Flying Moon (German Edition)
heruntergekommenen Haus gefunden. Ich stellte mein Fahrrad ab und suchte nach dem Schlüssel. Die Haustür klemmte ständig und wenn ich sie einmal ohne Probleme aufbekäme, würde ich niederknien und das Haus zum Wallfahrtsort erklären.
In der Küche verhandelte Lion mit meiner Mutter um Taschengeld. Sie ließ braunes Wasser aus der Leitung laufen, wartete, bis es klar wurde und füllte erst dann die Kaffeemaschine.
»Mom, ich brauch mein Taschengeld!«
»Lion, du weißt, unsere finanzielle Lage zurzeit ...«
Okay, diesen Spruch kannten wir.
»Ich habe schon seit drei Monaten kein Taschengeld mehr bekommen.«
Meine Mutter seufzte. »Wenn ich den Auftrag für das Bühnenbild kriege, dann reden wir noch mal darüber. Okay?«
Lion stöhnte. Er war der einzige Junge an der Schule, der mit einem Steinzeithandy herumlief und in der 9. Klasse war das so gut wie ein Todesurteil. Ich setzte mich zu ihm an den Tisch und lächelte aufmunternd. Er hatte immer noch lange, blonde Haare; meist hielten ihn die Leute für ein Mädchen, aber in letzter Zeit waren seine Gesichtszüge härter und seine Stimme tiefer geworden.
»Besteckkampf?«
Ich nahm mir eine Gabel, Lion schnappte sich ein Messer und wir fochten bis Lion verlor, da ich sein Messer einfach zwischen meinen Gabelzinken einklemmte.
»Schätze, du machst heute den Abwasch!«
»Kann ich mir nicht vorstellen.«
Ich grinste. »Das heißt nicht, dass es nicht passieren wird.«
Er nahm das Messer und führte es schnell an seiner Kehle vorbei.
»Auch der Tod wird dich nicht davor bewahren.«
»Ich meinte, ich töte dich .«
»Dann musst du erst recht abwaschen.«
Er lächelte. »Eines Tages wird jemand kommen und ...«
»Was?«
»... dich besiegen.«
»Nicht im Besteckkampf!«
Er wollte sauer sein, aber dann grinste er, schlenzte zum Kühlschrank und riss die Tür auf. Hallo Leere. Mom warf einen schuldbewussten Blick in die Fächer.
»Moon? Hast du eingekauft?«
»Ja. Spaghetti, T-Soße, Salat.« Ich zeigte auf eine Tüte an der Tür. Sie lächelte. »Schön, dann brauchen wir nur noch jemanden, der kocht.«
»Ich habe diese Auktion auf eBay ...«
»Lion?«
»Okay.«
Mom atmete erleichtert auf. Lion war großartig, einfach zu gut für diese Welt.
Lions Zimmer war in dem üblichen Chaos. Kreuz und quer waren Seile gespannt, an denen alle möglichen Gegenstände hingen. Wenn Lion mit seiner Kunstinstallation fertig sein würde, sollte kein Gegenstand mehr auf dem Boden liegen. Das jedenfalls war der Plan. Ich kämpfte mich zu seinem Schreibtisch und dem einzigen Computer in der Wohnung durch. Die Lüftung schnarrte beim Hochfahren, er war alt, funktionierte aber tadellos. Schnell loggte ich mich bei eBay ein.
Als mein Vater auszog, hatte er mir seinen Plattenspieler zusammen mit seiner Plattensammlung vermacht. Es war mein wertvollster Besitz. Musik ist das Größte, sie rockt die Welt und wenn ich irgendwann einmal auf einer einsamen Insel ausgesetzt werde, dann werde ich nur um einen Plattenspieler und Platten bitten. Und erst die Platten-Cover! Acht Plattenhüllen hingen ständig über meinem Bett. Meine eigene Plattenwand. Nur die Mitte war frei. Für Janis. Ich suchte schon eine Weile nach der Platte. Janis Joplin in Concert von 1972 . Auf dem Cover trägt sie die Haare offen und wild, hat bestimmt hundert Armbänder am Handgelenk und lächelt – vielleicht bekifft, aber auch stark und frei.
Ich ging bis zwanzig Euro mit. Viel Geld, dazu kamen noch die Portokosten. Eigentlich hatte ich keine zwanzig, zehn davon waren schon von Sophia geborgt. Vielleicht stiegen die drei Mitbieter einfach aus? Ich starrte auf den Bildschirm: drei, zwei, eins – nicht meins.
Als ich zurück in die Küche kam, kochte das Wasser und Lion schmeckte die Soße ab.
»Und?«
»Zu spät.«
»Siehst du!«, sagte er befriedigt, »ich hab´s ja gesagt.«
»Da hat mich doch keiner besiegt, sondern einfach nur höher geboten.«
Ich setzte mich an den Tisch und sah ihm zu, wie er die Spaghetti ins Wasser tat und einen Salat vorbereitete. Vielleicht sollte er Koch werden? Ich stellte mir ständig Berufe für Lion vor, vielleicht weil er ziemlich verrückt und abgedreht war. Obwohl ich ihn gerade dafür liebte, machte ich mir manchmal Sorgen, wie er später zu Recht kommen sollte. Nicht im Besteckkampf, sondern in der normalen Welt.
Meine Mutter kam aus ihrem Zimmer und wir setzen uns. Sie schob mir einen Theaterflyer über den Tisch.
»Hier, für dieses Stück
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