Forbidden
ihm, mit der rechten Hand greife ich nach unten und ziehe das verknotete Laken zu mir hoch. Jetzt oder nie. Der Wärter kann jeden Augenblick kommen. Ich darf nicht länger zögern. Es ist höchste Zeit. Trotz des Grauens, des grellweißen Grauens, lege ich mir die zweite Schlinge, die ich geknüpft habe, um den Hals. Ich ziehe sie fest. Ein Schluchzer zerfetzt die Stille. Und dann lasse ich los.
Willas große blaue Augen, Willas Grübchen in den Wangen, wenn sie lächelt. Tiffins zerzauste blonde Mähne, Tiffins breites Grinsen. Kits aufgeregte Rufe, Kits stolze Haltung. Mayas Gesicht, Mayas Küsse, Mayas Liebe.
Maya, Maya, Maya …
Epilog
Maya
Ich starre mich im Spiegel an, der in meinem Zimmer hängt. Ich kann mich klar und deutlich sehen, aber es ist, als wäre ich nicht da. Das Spiegelbild, das mir daraus entgegenblickt, ist das einer Fremden, einer anderen. Einer Person, die sich Ich nennt. Sie sieht genauso aus wie ich, doch ich bin es nicht. Sie wirkt so normal, so lebendig. Meine Haare sind streng zurückgekämmt, aber mein Gesicht ist mir so erschreckend vertraut, meine Augen sind dieselben wie immer – groß und blau. Meine Miene ist ausdruckslos – ruhig, gefasst, fast heiter. Ich sehe so schockierend normal aus, so verstörend alltäglich. Nur meine aschfahle Haut, die dunklen Ringe unter den Augen verraten etwas von den vielen schlaflosen Nächten, in denen ich zu meiner Zimmerdecke hochstarre. Aus einem Bett wie ein kühles Grab, in dem ich nun immer allein liege. Die Beruhigungsmittel haben sie schon seit Langem abgesetzt, die Drohung, mich in ein Krankenhaus einzuweisen, fallen gelassen, seit ich wieder angefangen habe, zu essen und zu trinken, seit ich meine Stimme wiedergefunden habe, seit ich es wieder schaffe, meine Muskeln in Tätigkeit zu versetzen, damit ich aufstehen, mich bewegen, funktionieren kann. Alles fühlt sich fast wieder normal an: Mum hat aufgehört, mich zwangsernähren zu wollen, Dave hat aufgehört, unseren Ersatzvater zu spielen, und sie sind beide wieder ans andere Endeder Stadt verschwunden, nachdem sie eine Zeit lang halbwegs für Ordnung bei uns gesorgt und für die Besuche vom Jugendamt eine überzeugende Show abgeliefert haben. Ich bin in meine vertraute Rolle als fürsorgliche ältere Schwester zurückgekehrt, die sich um alles kümmert. Nur dass mir nichts mehr vertraut ist, am allerwenigsten ich selbst.
Die Alltagsroutine hat wieder eingesetzt: aufstehen, duschen, sich anziehen, einkaufen, kochen, das Haus putzen, dafür sorgen, dass Tiffin und Willa sich beschäftigen. So viel wie möglich abgelenkt sind. Auch Kit. Sie hängen wie Kletten an mir – nachts endet es meistens damit, dass wir uns schließlich alle vier im ehemaligen Bett unserer Mutter aneinanderkuscheln. Sogar Kit hat sich in ein verängstigtes Kind zurückverwandelt, trotz seiner tapferen Bemühungen, mir, wo er nur kann, zu helfen und mich zu unterstützen. Er ist so tapfer, dass mir davon ganz weh ums Herz wird. Wenn wir uns dann unter der Bettdecke in dem großen Doppelbett aneinanderschmiegen, wollen sie manchmal darüber reden; viel häufiger aber wollen sie weinen, und ich tröste sie dann, so gut ich kann, obwohl ich weiß, dass kein Trost jemals ausreichen wird, dass keine Worte sie jemals mit dem versöhnen können, was geschehen ist. Was ich ihnen auferlegt habe.
Tagsüber ist immer jede Menge zu tun: mit den Lehrern darüber verhandeln, wann sie wieder in die Schule geschickt werden; zu unseren Therapiesitzungen bei einem Psychologen gehen; mit unserer zuständigen Sozialarbeiterin Kontakt halten; dafür sorgen, dass alle gut versorgt und gesund sind … Ich muss mir ständig eine Liste machen, die mich daran erinnert, was ich in jedem Augenblick zu tun habe – wann ich aufstehen soll, wann die Mahlzeiten sind, wann wir alle ins Bett gehen sollen … Ich muss mir jedeAufgabe in viele kleine Schritte zerlegen, sonst kann es vorkommen, dass ich plötzlich mit einem Topf mitten in der Küche stehe, völlig überwältigt von meiner Trauer und verloren, ohne die geringste Ahnung, warum ich da stehe oder was ich als Nächstes tun wollte. Ich fange Sätze an, die ich nicht zu Ende bringe, ich bitte Kit um einen Gefallen und weiß dann nicht mehr, was ich von ihm wollte. Er versucht, mir zu helfen, versucht, mir vieles abzunehmen. Aber ich habe Angst, dass er sich übernimmt, dass er auch bald zusammenbricht, und deshalb bitte ich ihn, mich machen zu lassen. Gleichzeitig merke ich,
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