Forbidden
sie anziehen soll. Gerade hält sie die blonden Haare mit den frisch gefärbten Strähnchen hoch, experimentiert mit einer kunstvollen neuen Frisur herum und bittet mich dann, ihr die falsche Diamantkette – ein Geschenk von Dave – um den Hals zu legen, von der sie schwört, sie sei echt. Für das tief ausgeschnittene Minikleid, das ihre sechzehnjährige Tochter niemals anziehen würde, hat sie inzwischen nicht mehr die Figur, und der böse Kommentar, der dazu regelmäßig aus den Gärten der Nachbarn zu hören ist, hallt mir in den Ohren. Eine fette Sau, die glaubt, sie wär ein junges Reh.
Ich schließe die Tür meines Zimmers hinter mir und lehne mich für einen Augenblick dagegen. Das hier ist mein Reich, dieses kleine Stück Raum gehört mir. Er war nie als richtiges Zimmer geplant und ist nur eine Abstellkammer mit einem schmalen Fenster. Aber irgendwie hab ich es hingekriegt, mir hier vor drei Jahren noch ein Feldbett reinzuquetschen, als mir endgültig klar geworden war, dass es einfach nicht mehr ging, mir mit den Kleinen das Zimmer zu teilen. Das ist hier einer der wenigen Plätze, wo ich allein sein kann: keine anderen Schüler mit ihren Blicken und ihrem spöttischen Grinsen; keine Lehrer, die mich mit Fragen quälen; keine schreienden, rempelnden Körper. Und immerhin noch ein wenig freie Zeit, bis Mum zu ihrer Verabredung gehtund das Abendessen gekocht werden muss und die Streitereien wegen Essen, Hausaufgaben und Zubettgehen anfangen.
Ich lasse meine Tasche und den Blazer auf den Boden fallen, streife die Schuhe ab und setze mich aufs Bett, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Knie bis unters Kinn gezogen. Normalerweise ist es bei mir immer aufgeräumt, aber heute Morgen hatte ich verschlafen, und danach sieht es jetzt auch aus: der Wecker auf dem Boden, der blaue Vorhang nur halb vom Fenster zurückgezogen, das Bett nicht gemacht, auf dem Stuhl ein Durcheinander von Kleidungsstücken, überall Bücher und Papiere, nicht nur auf dem Schreibtisch, wo sie sich sowieso immer stapeln. Die Wände, von denen die Farbe abblättert, sind nackt – bis auf ein kleines Foto von uns sieben, während der letzten gemeinsamen Ferien in Blackpool aufgenommen, zwei Monate bevor Dad uns verließ. Willa war damals noch ein Baby und sitzt bei Mum auf dem Schoß, Tiffins Gesicht ist mit Schokoladeneis verschmiert. Kit hat sich verkehrt auf die Bank gesetzt, sein Kopf baumelt nach unten, und Maya versucht, ihn hochzuziehen. Nur die Gesichter von Dad und mir sind deutlich und scharf zu erkennen – wir haben einander die Arme um die Schultern gelegt und lächeln breit in die Kamera. Ich werfe selten einen Blick auf das Foto, das ich aus Mums Verbrennungsorgie gerettet habe. Aber ich brauche das Gefühl, es in meiner Nähe zu haben: Es erinnert mich daran, dass diese glücklicheren Zeiten wirklich existiert haben. Dass das alles nicht nur eine Einbildung von mir ist.
Zweites Kapitel
Maya
Mein Hausschlüssel steckt wieder mal im Schloss fest. Ich fluche. Trete gegen die Tür, wie immer. Als ich dann aus der Spätnachmittagssonne in den dunklen Flur komme, merke ich sofort, dass die Dinge bereits außer Kontrolle geraten sind. Das Wohnzimmer ist wie so oft der reinste Saustall – Chipstüten, Schultaschen, Briefe von den Lehrern und unfertige Hausaufgaben liegen auf dem Boden verstreut. Kit futtert Cheerios aus der Schachtel und versucht gerade, quer durchs Zimmer Willa einen in den Mund zu werfen.
»Maya, Maya, schau mal, was Kit kann!«, ruft Willa aufgeregt. »Von so weit weg!« Ich hänge meinen Schulblazer und die Krawatte im Flur an einen Haken.
Obwohl der Teppich voller zertrampelter Cheerios ist, muss ich lächeln. Meine kleine Schwester ist das süßeste fünfjährige Mädchen auf der Welt. Mit ihren Grübchen in den Wangen, ihrem vor lauter Aufregung roten Gesicht und ihren Resten von Babyspeck. Mit ihrem unschuldigen Strahlen. Seit ihr ein Vorderzahn ausgefallen ist, steckt sie jetzt immer die Zungenspitze in die Lücke, wenn sie lächelt. Ihre langen blonden Haare sind glatt und fein wie goldene Seide und glänzen mit ihren winzigen Ohrringen um die Wette. Ein blonder Pony hängt ihr in die Stirn, der unbedingt wieder nachgeschnitten werden müsste. Mit ihrengroßen blauen Augen, blau wie ein tiefer See, blickt sie dauernd leicht erschrocken in die Welt. Sie hat sich schon umgezogen, hat statt der Schuluniform jetzt ein geblümtes rosa Sommerkleid an, ihr derzeitiges Lieblingskleid, und kann
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