Forgotten
arbeiten. Außerdem will ich dich nicht allzu lange von deinem Freund fernhalten. Wie heißt der gleich noch mal?«
»Luke«, sage ich geduldig, weil ich weiß, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis er sich den Namen merkt.
»Richtig, Luke.«
Ich habe das Gefühl, dass ihn die Geschichte über Jonas traurig gemacht hat, und dass ihm deshalb jetzt nicht mehr nach Reden zumute ist. Aber das geht in Ordnung. Ich verstehe es, weil ich ihn verstehe – besser, als er ahnt. Es ist nämlich alles schon da, in meinem wunderbar verkorksten Hirn. Es ist da, noch bevor er es sagt. Noch bevor er es tut.
Ich liebe meinen Vater, und diese Liebe gründet vornehmlich in der Beziehung, von der ich weiß, dass wir sie bald haben werden. Deswegen macht es mir auch nichts aus, ein einziges Mal am Telefon von ihm abgewürgt zu werden.
»Okay, dann reden wir nächstes Mal weiter«, sage ich.
»Das machen wir. Nächste Woche, selbe Zeit?«
Meine Mundwinkel zucken nach oben. Na, bitte. Es wird doch.
»Ja«, sage ich, und so etwas wie Glück stellt sich ein. »Nächste Woche, selbe Zeit.«
»Ich habe dich lieb, Schatz«, flüstert er noch eilig.
»Ich dich auch, Dad.«
*
Mitten in der Nacht reißt mich die Erinnerung aus tiefem Schlaf. Ich taste nach dem Schalter der Nachttischlampe, knipse das Licht an und warte kurz, bis sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnt haben. Sobald ich einigermaßen sehen kann, schiebe ich die Decke beiseite, springe aus dem Bett und spurte los.
»Mom!«, flüstere ich aufgeregt.
Sie rührt sich nicht.
»Mom?«, sage ich lauter.
Nichts.
Ich gehe zu ihr und rüttle sie sacht an den Schultern. Als das auch nichts bringt, rüttle ich sie heftiger und rufe ganz nah an ihrem Ohr: »Mom!«
Keuchend schießt sie in die Höhe. Sie blinzelt wie verrückt und ruft panisch: »Was ist los?« Ihr Blick springt von mir zur Tür zur Wand zum Fenster und wieder zurück.
»’tschuldigung«, sage ich und setze mich auf die Bettkante. »Ich wollte dich nicht erschrecken. Keine Angst, es ist nichts Schlimmes.«
Sie wirft einen Blick auf den Wecker auf dem Nachttisch. »Und wieso weckst du mich dann um zwei Uhr nachts?«, fragt sie und schiebt sich verschlafen die Haare aus dem Gesicht.
Ich halte ihr das Phantombild von Jonas hin. Meine Hand zittert.
Sie versteht nicht.
»In Wirklichkeit sieht er ein bisschen anders aus«, sage ich, und meine Augen füllen sich mit Tränen.
Zuerst sieht mich Mom verständnislos an, aber schließlich begreift sie.
»Woher weißt du das?«, flüstert sie trotzdem. Sie muss Gewissheit haben.
»Ich weiß es, weil wir ihn wiedersehen werden, Mom«, sage ich und sehe vor mir, wie er uns zu Weihnachten besuchen kommt. Ich erinnere mich daran, wie meine Eltern ihn damit aufziehen, dass man ihn ja nicht in die Nähe des Christbaumschmucks lassen soll, und an sein warmes, wundervolles Lachen.
»Geht es ihm gut?«, fragt meine Mom noch leiser, als hätte sie Angst vor der Antwort.
Ich nicke. »Ja, es geht ihm gut.«
»Woher weißt du das?«, fragt sie erneut. Ich rutschte zu ihr und schlinge meine Arme um sie, so fest ich kann. Dann flüstere ich ihr ins Ohr: »Weil ich mich an ihn erinnere.«
Epilog
Geschrieben So, 10. 07.; jeden Abend zu den Aufzeichnungen legen!
Luke hat mich heute so angesehen, dass mir ganz heiß wurde. Wir standen eingequetscht zwischen tausend anderen Leuten beim Weezer-Konzert (richtig cool!), und ohne ein Wort zu sagen oder mich anzufassen, hat er mir zu verstehen gegeben, dass er mit mir allein sein wollte.
Plötzlich war ich ganz gerührt, weil ich daran gedacht habe, wie einzigartig diese kleinen Momente mit Luke sind. Klar, ich kenne schon viele aus der Zukunft, aber in dem Augenblick, in dem sie passieren, sind sie alle neu. Wer weiß, vielleicht war es das erste Mal, dass er mich genau so angesehen hat? Und in nicht mal zwei Stunden ist alles wieder weg …
Ich habe zu Hause noch lange darüber nachgedacht. Ich habe sämtliche Aufzeichnungen aus der Highschool gelesen und versucht, alles in mich aufzusaugen, was ich vergessen habe. Und dabei ist mir was Wichtiges klargeworden: Ich bin viel stärker als früher.
Bis zu diesem Jahr waren meine gesamte Vergangenheitserinnerung und ein Teil meiner Zukunftserinnerung blockiert, höchstwahrscheinlich wegen Jonas’ Entführung und seinem – vermeintlichen – Tod. Und wohl auch wegen Lukes Tod in der Zukunft. Und wegen Dad. Lukes Auftauchen muss ein paar Sachen in mir losgetreten
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