Forgotten
mich. Er redet nicht gerne über sich; zumindest jetzt noch nicht.
Das wird schon noch.
Ich streiche mit dem Finger über die glitzernde Käferbrosche, die früher meiner Großmutter gehört hat. In meinen Aufzeichnungen von letzter Woche stand, dass ich sie kurz nach unserem letzten Telefonat mit der Post bekommen habe. Offenbar wollte Dad, dass ich ein Erinnerungsstück an sie habe.
Natürlich hätte er sie auch einfach mitbringen können, wenn er am Ende der Sommerferien zu Besuch kommt. Es ist nur ein kurzer Besuch, aber er wird kommen.
Er weiß noch nichts davon. Ich schon.
»Eigentlich nichts«, sage ich betont unbekümmert. »Ich bin faul und genieße den Sommer.«
»Das ist gut«, sagt er.
»Dad?«
»Ja, Schatz?«
»Geht’s dir gut?«
»Natürlich geht’s mir gut«, sagt er rasch, als wäre alles andere völlig undenkbar. »Wieso fragst du?«
»In meinen Notizen von heute Morgen stand, dass Mom dich angerufen hat. Weil Jonas’ Kidnapper geschnappt wurden.« Es ist ein komisches Gefühl, mit ihm über Mom zu sprechen. Wenn ich an die Blicke denke, die er ihr bei meiner Highschool-Abschlussfeier zuwerfen wird, ist mir sofort sonnenklar, dass er sie noch liebt.
»Das stand also in deinen Notizen, ja?«, fragt Dad etwas hölzern. Für ihn ist mein Zustand noch neu, und er muss sich erst daran gewöhnen. Er hat ja nicht all die Jahre mit mir gelebt wie Mom.
»Ja«, sage ich leise. »Na ja, ich hab mich bloß gefragt, wie du dich dabei fühlst.«
»Ach, weißt du, das ist nicht so leicht zu beschreiben«, beginnt er zögerlich. »Wahrscheinlich geht es mir nicht anders als dir und Mom.«
Weil ich nichts sage, fühlt er sich genötigt, fortzufahren.
»Deine Mutter hat gesagt, dass die Kidnapper bereit sind, der Polizei die Namen und Adressen der Leute zu nennen, die Babys von ihnen gekauft haben, das ist ja schon mal etwas.«
»Aber von Jonas haben sie noch nichts gehört?«, frage ich.
»Nein«, sagt Dad und fügt hinzu: »Stand das nicht in deinen Notizen?«
»Nein.«
»Na ja, ich würde sagen, ich bin traurig, aber zugleich auch zuversichtlich«, erklärt Dad.
Ich muss lächeln. Genauso würde ich meine eigenen Gefühle beschreiben.
»Ich weiß nicht, London – die meisten schlimmen Dinge im Leben erledigen sich nicht von heute auf morgen. Aber irgendwann eben schon. Ich habe immer daran geglaubt, dass sich irgendwann alles aufklären wird, das hat mir durch ein paar ziemlich harte Jahre geholfen.«
Ich weiß nicht so recht, was ich darauf sagen soll, also schweigen wir beide eine Zeitlang. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus.
»Erzähl mir von ihm«, bitte ich leise.
»Von Jonas?«, fragt Dad, als wüsste er nicht, wer gemeint ist.
»Ja. Erzähl mir irgendwas Schönes. Irgendwas, was ich noch nicht weiß.«
»Hmm«, macht Dad, während er seine Erinnerungen durchforstet. »Er hat nichts lieber gegessen als Süßkartoffeln.«
Dad und ich lachen, und für einen kurzen Moment fühlt es sich fast an, als wäre alles ganz normal.
»Okay …«, sage ich. »Und sonst noch?«
»Er hat immer auf dem Handy deiner Mutter herumgekaut … Nein, warte, ich hab’s«, unterbricht er sich selbst. »Eine Zeitlang war er ganz wild auf Flummis. Er ist durchs Haus gedackelt und hat alles eingesammelt, was irgendwie rund aussah, ob es nun ein echter Ball war oder bloß eine Apfelsine. Bei jedem runden Gegenstand hat er ›Ba-ba!‹ gerufen und so lange auf ihn gezeigt, bis er ihn bekommen hat. Da war er gerade ein Jahr alt. Dann kam Weihnachten, und deine Mutter hat wie jedes Jahr den Baum geschmückt. Er war wirklich brav, das muss man sagen, er hat die Kugeln nicht angerührt. Und als endlich Weihnachten war und wir um den Baum herum saßen und die Geschenke verteilt haben, muss Jonas sich wohl gedacht haben: ›So, jetzt darf ich sie anfassen!‹ Er ist zum Baum gelaufen, hat die Kugeln abgerissen und wollte sie auf dem Dielenboden springen lassen.«
»Sind sie kaputtgegangen?«, frage ich überflüssigerweise.
»Was glaubst du denn?«, sagt Dad und lacht. »Das waren die antiken Christbaumkugeln deiner Mutter. Das ganze Wohnzimmer war voller Scherben. Jonas fand den Krach interessant, aber von dem Augenblick an war er im Umgang mit Bällen etwas vorsichtiger. Na ja, wie auch immer …« Dads Stimme verebbt.
»Das war eine lustige Geschichte, Dad.«
»Hm«, sagt er und klingt wehmütig dabei. »Vielleicht machen wir jetzt besser mal Schluss, ich muss noch ein bisschen im Garten
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