Forlorner (Salkurning Teil 1) (German Edition)
Träumen! Einmal war er aufgewacht, als er seine
Mutter sagen hörte: Du bist vom Glockenturm gefallen, Schatz! Er hatte die
Augen geöffnet und in die tränennassen, von Liebe verzerrten Augen einer
gänzlich fremden Frau gesehen. Ihre Hand auf seinem Haar hatte er gespürt und den altmodischen Lavendelduft ihres Parfüms dabei wahrgenommen. Und um ihn
herum war auch nicht Kriopes Wagen gewesen. Dabei war er sich so wach vorgekommen! Unheimlich. An den Rest erinnerte er sich kaum.
Er stolperte die Leiter hinunter in den grauen Morgen.
Noch war niemand zu sehen, aber bei den Kalendios rumorte es, und beim Chef war
die Wagentür auf und man hörte Stimmen. Fröstelnd verließ er das Lager, ohne zu
wissen, wohin er überhaupt wollte. Eigentlich war diese Morgenfrische schön, so
ohne Hitze und Staub. Und es roch nach Pflanzen in diesem Park, ganz anders als
die typische Orolo-Luft, die einem den Rachen ausdörrte. Während er langsam
dahinstapfte, empfand er beschämende Erleichterung bei dem Gedanken, Kriope und
Dionyssu und diesen Karren mit seinem Sterbegestank hinter sich lassen zu
können.
Diese verdammte Geigenmusik! Nicht zum Aushalten. Er
war schon halb den Hügel hinauf, aber er hörte sie immer noch. Vor ihm lag der
Obstgarten. Was hatte dieser Kaploster gesagt? Nicht in die Gärten gehen? Na,
egal. Der schlief sowieso noch. Und außerdem stand das Gattertor aus Zweigen
offen – also konnte es nicht so verboten sein. Als er unter den hohen, dicht
belaubten Bäumen des Parks hervortrat, war es schon heller. Vor ihm lag das
Perlmuttgrau der Morgendämmerung über den Apfelbäumen. Überall zwischen den
Zweigen Vorhänge aus taubesetzten Spinnweben. Das lange Gras lag umgebogen und
schwer von Tropfen. Und was war das da vorn? Da war der Boden weiß, als hätte
es geschneit. Blütenblätter? War es dafür nicht zu spät im Jahr? Aber was
wusste er schon von den Pflanzen hier. Und dann sah er Orla. Sie stand mitten
in diesen weißen Blättern, reglos, in einem Kittel, der lose um sie hing wie
ein Nachthemd. Ihre Füße waren nackt. Das Haar lag in einem langen Zopf über
ihrem Rücken – Enttäuschung und Erleichterung zugleich. Kein wehendes
Schlangenhaar, in dem er sich verfangen würde. Wem war sie diesmal entwischt?
Und was machte sie da? Seine Schritte verursachten ein feines Knistern, das er
nicht weiter beachtete.
„Orla?“
Sie hatte ihn bisher nicht bemerkt, weil sie ihm den
Rücken zuwandte, aber auch jetzt reagierte sie nicht. Sie sah zu einem Baum
auf, einem knorrigen alten Strunk voll fleckiger grüner Äpfel und fleckiger
grüner Blätter. Er berührte sie leicht an der Schulter, wobei er sich des
Kneipengestanks, den er verbreitete, peinlich bewusst war. Dazu der Stoppelwald
in seinem Gesicht. Die von Alkohol und Kotze kratzige Stimme. Aber sie zuckte
nicht zurück, sondern drehte sich langsam zu ihm um, wie eine Schlafwandlerin.
Vielleicht sah sie ihn gar nicht, mit diesen träumenden Augen.
Aber er sah sie. Und er hatte sich nicht geirrt, er
kannte dieses Gesicht! Diese Haut, übergossen von demselben Perlmuttschimmer
wie alles ringsum … er wusste, wie sie sich anfühlte und auch das matte
Malvenrot ihres Mundes. Ihre Augen – so vertraut!
„Orla, hörst du mich?“, fragte er zaghaft. Falls sie
wirklich schlafwandelte, wollte er sie nicht aufschrecken.
Ihr Blick verlor das Träumende.
„Weißt du, wer ich bin?“
Diesmal nickte sie. Und lächelte.
„Kann es sein, dass – dass wir uns schon länger
kennen? Von – ähm, von woanders?“
Keine Reaktion.
„Weil ich glaube, ich kenne dich. Nicht von hier.
Schwierig zu erklären – von früher vielleicht? Verstehst du, was ich meine?“
„James!“, sagte sie. Ihr Lächeln war unsicher, ein bisschen
verschwommen – wie jemand, der noch nicht ganz wieder aus einer Narkose erwacht
ist. Ob die ihr irgendwelche Drogen gaben?
„Geht es dir gut hier?“
Sie nickte – aber war sie überhaupt imstande zu einer
zuverlässigen Auskunft?
„Was ich meine, ist – gehen sie gut mit dir um? Deine
Mutter, Jakobe, die anderen? Bist du – bist du freiwillig hier?“
Jetzt sah sie ihn aufmerksam an. Und er wartete, wartete
ein langes, tiefes Schweigen ab, das ihn fast verrückt machte vor Ungeduld.
Dann nickte sie wieder. „Das ist doch Racht.“
Ihre Stimme, ganz leise, ganz ergeben – das gab ihm
den Rest. „Nein, ist es nicht! Die dürfen dich hier nicht festhalten oder zu
irgendwas zwingen. Der Mann, den du heiraten sollst …
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