Formbar. Begabt
führen?
Ich bin kein bisschen zurechtgemacht. Das ist so peinlich.
Jan sieht natürlich umwerfend aus. Heute ist er, abgesehen von dem hellgrauen Longsleeve, das er unter einem Hemd mit kurzen Ärmeln trägt, komplett in Schwarz gekleidet. Seine Haare hängen ihm ein wenig in die Stirn, und er mustert mich reumütig. Wenn seine Augen nicht vergnügt glitzern würden, könnte man ihm die schuldbewusste Miene fast abnehmen. Jetzt ist es wohl zu spät, um mich im Schrank zu verstecken und Abwesenheit zu simulieren.
»Hallo?«, begrüße ich ihn mit einem fragenden Unterton. Dem entrüsteten Kopfschütteln meiner Mutter kann ich entnehmen, dass diese spärliche Begrüßung ihrer Vorstellug definitiv nicht entsprochen hat. Tja. Hätte sie mich vorgewarnt, wäre ich sicherlich die personifizierte Höflichkeit gewesen.
Jan lässt sich durch unser stummes Blickduell nicht abschrecken.
»Hannah.« Durch ein kurzes Innehalten macht er die bloße Nennung meines Namens zu etwas Besonderem. »Bitte entschuldige den Überfall. Seit letztem Samstag haben wir ausschließlich telefoniert. Ich habe die Stunden bis zum Montag gezählt, aber ich kann einfach nicht mehr so lange warten.« Meine Mutter strahlt im Hintergrund über das ganze Gesicht. »So blieb mir nichts anderes übrig, als einfach zu klingeln. Deine nette Mutter hat mich sehr zuvorkommend aufgenommen.« Das Lächeln meiner Mutter wird noch breiter.
Was sollen diese salbungsvollen Worte? Keine Frage. Jan ist wirklich liebenswürdig. Aber diese Ansprache kann nicht sein Ernst sein. Er spielt doch Theater, um meine Mutter zu beeindrucken. Ein Blick auf sie genügt. Es funktioniert einwandfrei. So ein Schauspieler. Kein Mensch nähme an, dass der gleiche Gentleman es sich zur Aufgabe gemacht hat, mein inneres Gleichgewicht zu zerstören. Meine Mutter strahlt Jan noch einmal hingerissen an, dann schließt sie die Tür und geht. Ich fasse es nicht. Was hat er um Himmels Willen mit ihr angestellt, dass er sie dermaßen für sich eingenommen hat?
»Deine Mutter ist sehr sympathisch. Das scheint bei euch in der Familie zu liegen.«
Energisch klappe ich mein Buch zu und setze mich auf. Jan steht in der Mitte des Raums und schaut sich um. Ich versuche, das Zimmer mit seinen Augen zu sehen. Hellgelb gestrichene Wände, dazu eine Unmenge an Regalen voller Bücher und ein großer Kleiderschrank. Vor dem Fenster steht ein Schreibtisch, in der Ecke befindet sich das Bett, auf dem ich gerade sitze. Glücklicherweise habe ich im Verlauf der letzten Woche meine Kleiderberge beseitigt, sodass es recht ordentlich aussieht. Peinliche Poster hängen auch nicht an den Wänden. Stattdessen zieren sie verschiedene abstrakte Bilder, deren Farbkombination mich angeprochen hat.
Jan hat seinen visuellen Rundgang durch mein Zimmer beendet, und sein Blick ruht nun auf mir. Genauer: auf meiner Brust. Hallo? Überlegt er sich, ob ich den von ihm gekauften BH trage? Das tue ich tatsächlich, aber das muss er nicht wissen. Wie unverschämt ist das denn?
Langsam breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. Ich folge seinem Blick und stelle bestürzt fest, was diesen Heiterkeitsausbruch ausgelöst hat. Von wegen Brüste betrachten. Er amüsiert sich über die halbnackten Backstreet Boys, die mein T-Shirt zieren.
Resigniert seufze ich. »Jugendsünde.«
Er lacht und kommt ein wenig näher. »Darf ich mich zu dir setzen?«
Wortlos nicke ich. Sicherheitsabstand halten ist lächerlich, auch wenn ich ihn für den Moment am liebsten auf dem Schreibtischstuhl denkbar weit von mir entfernt platzieren würde. Er setzt sich gerade so weit entfernt, dass ein kleiner Abstand zwischen uns gewahrt wird. Dennoch werde ich von seinem frischen Duft eingehüllt, der mein logisches Denken wie zähflüssiger Honig verklebt.
Komm schon, Hannah.
Honig? Nicht dein Ernst.
Das ist die gleiche Person, mit der du die ganze letzte Woche lange Gespräche geführt hast. Kein Grund, direkt durchzudrehen. Am Telefon war die Sache irgendwie einfacher. Angestrengt starre ich auf meine Knie und zerbreche mir den Kopf bei dem Versuch, eine geistreiche Bemerkung von mir zu geben. Vergeblich.
Jan atmet tief aus. »Tut mir leid, dass ich uns in diese unangenehme Situation gebracht habe.«
»Was meinst du?«
»Zu Hause erschien es mir noch als gute Idee, dir einen Überraschungsbesuch abzustatten. Du kannst dir nicht vorstellen, wie blöd ich mir vorkomme. Ich bin hier reingeschneit und habe vor Nervosität keinen Schimmer,
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