Formbar. Begabt
Füßen weg. Überwältigt von den Sinneseindrücken schließe ich die Augen.
Dieser Kuss ist anders als die vorhergehenden. So vorsichtig und zärtlich, als wären wir uns zum ersten Mal nahe. Und doch durchlaufen mich die Gefühle in einer bisher nicht dagewesenen Stärke. Dieses Mal bin ich es, die den Intensitätsgrad steigert, indem ich leicht in seine Unterlippe beiße. Jan stöhnt und zieht mich noch näher zu sich heran. Während er seine Hand in meinen Haaren vergräbt, lasse ich meine Fingerspitzen über seine Wange und den Hals hinuntergleiten und verharre knapp unterhalb des Schlüsselbeins.
Ohne weiter zu zögern, drehe ich mich und verlagere mein Gewicht, sodass ich auf Jans Schoß sitze. Unter meiner Handfläche spüre ich das Heben und Senken seiner Brust, das im Verlauf unseres Kusses deutlich schneller wird. Auch mir raubt die Stärke der Empfindungen den Atem.
Bevor sich mein Gehirn jedoch aufgrund fehlender Sauerstoffversorung komplett abschaltet, schickt es mir einen letzten Hilferuf. Wir befinden uns in der Öffentlichkeit!
Ruckartig löse ich mich von Jan, springe förmlich von seinen Beinen, und rücke ein Stück ab. Dann warte ich darauf, dass sich meine Pulsfrequenz langsam wieder beruhigt. Ich sollte wirklich an meiner Selbstbeherrschung arbeiten. Jan Vorwürfe aufgrund seiner Annäherungsversuche machen, aber selbst bei der ersten Gelegenheit auf den Schoß hüpfen. Sehr glaubwürdig. Wie wird er damit umgehen, dass ich zuerst so aufdringlich war und unseren Kuss unmittelbar danach abrupt abgebrochen habe?
Vorsichtig riskiere ich einen Blick, um zu prüfen, wie sehr ich ihn verletzt habe. Erleichtert atme ich auf. Obwohl ich in seinen Augen eindeutiges Verlangen erkennen kann, lächelt er mich unsicher an und fährt sich mit der Hand durchs Haar.
»Jetzt sag bitte nicht, dass ich dich schon wieder überfallen habe?«, fragt er verlegen.
»Nein. Dieser Kuss war perfekt. Möglicherweise hat er sich nur ein wenig zu schnell gesteigert.«
Das war die Untertreibung des Jahres. Jan setzt ein schiefes Grinsen auf. »Da muss ich dir recht geben. Für einen Moment habe ich komplett vergessen, dass wir uns an einem öffentlichen Platz befinden. Entschuldige.«
Wir wissen beide, dass die Situation erst zu eskalieren drohte, als ich mich auf seinen Schoß setzte. Umso dankbarer bin ich, dass Jan bereitwillig die Schuld auf sich nimmt und mich nicht mit meinem unangemessenen Verhalten konfrontiert.
Schweigend sitzen wir nebeneinander und starren auf das klare Wasser vor unseren Füßen.
»Hannah«, setzt Jan mit leiser Stimme an, »ich...«
Er verstummt. Ich warte mit gemischten Gefühlen darauf, dass er die Fassung wiederfindet. Ich bin nicht sicher, was auf mich zukommen wird. Wenige Momente später strafft sich Jans Körperhaltung. Scheinbar hat er eine Entscheidung getroffen.
»Hannah«, sagt er erneut, doch dieses Mal spricht er weiter. »Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, wie ich es dir sagen soll. Wahrscheinlich weißt du es sowieso schon. Ich mag dich.«
Ich lache. »Ich mag dich auch.« Und ich mag auch meine Eltern, Viv, den Kanarienvogel unserer Nachbarin...
»Nein«, korrigiert er sich. »Ich mag dich nicht nur. Am liebsten würde ich jede freie Minute mit dir verbringen, deine Stimme hören, in deine Augen sehen. Ich habe mich in dich verliebt und möchte mit dir zusammen sein.«
Er ergreift meine Hand. Mein Mund wird trocken und mir laufen kalte Schauer den Arm entlang. Falls er eine halbwegs artikulierte Antwort haben möchte, sollte er mich vorher loslassen. Offensichtlich wird ihm das auch bewusst, denn er gibt meine Hand unvermittelt wieder frei und wartet. Ich bin am Zug und weiß nicht, was ich sagen soll. Mit einem jubelnden Schrei in seine Arme zu springen, erscheint mir unpassend. Muss ich überhaupt etwas tun? Er hat ja keine Frage gestellt.
Wem mache ich hier etwas vor? Natürlich ist es an mir zu reagieren. Seit Monaten bete ich Jan aus der Ferne an, und in den letzten beiden Wochen hat sich herausgestellt, dass er nicht nur äußerlich, sondern auch in seinem Innern attraktiv und anziehend ist. Selbstverständlich will ich mit ihm zusammen sein, davon träume ich schließlich schon lange. Also tue ich das, was ich in Jans Nähe bereits vielfach praktiziert habe und worin ich eindeutig viel Erfahrung sammeln konnte. Ich nicke. Optimistisch hoffe ich, dass Jan diese universal einsetzbare Geste richtig versteht.
Er tut es. Zärtlich umfasst er mein
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