Formbar. Begabt
großen Augen anschaut, als er ihm eine Probefahrt in seinem Auto anbietet. Mir war schon länger klar, dass Simon nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Wer flippt bitte vor Begeisterung aus, wenn er in einem Alfa Romeo mitfahren darf? Gut, meinetwegen, wenn es ihn glücklich macht. Aber nicht heute.
Während meine Mutter und mein Bruder bemüht sind, Jan in ein Gespräch zu verwickeln, hält sich mein Vater eher zurück und nimmt die Position des Beobachters ein. Ein kurzer Seitenblick zeigt, dass er Jan zwar nicht unfreundlich, aber doch mit deutlicher Skepsis mustert. Unvermittelt unterbricht er das Gespräch über die Vorteile von Mathematik als Leistungsfach: »Jan, wie alt sind Sie eigentlich?«
»Im Dezember werde ich 19.«
Mein Vater nickt. »Sie wirken sehr reif für Ihr Alter.«
An Jans Mienenspiel kann ich erkennen, dass er nicht sicher ist, ob es sich bei dieser Aussage um ein Kompliment handelt. Ich selbst weiß es auch nicht. Schnell starte ich einen Ablenkungsversuch: »Jan, wie wär's, wenn wir eine Runde spazieren gehen?«
Simon will gerade zum Protest ansetzen, dass Jan ihm eine Probefahrt versprochen habe, doch meine Mutter erstickt seine Einwände im Keim, indem sie entgegnet, dass er heute für das Einräumen der Spülmaschine zuständig sei. Mit einem dankbaren Blick stehe ich auf, während Jan noch geschickt die Teller aufeinanderstapelt, was von meiner Mutter mit einem beifälligen Nicken quittiert wird.
Kurze Zeit später befinden wir uns auf dem Weg in den nahegelegenen Park. Einträchtig schlendern wir nebeneinander her und führen dabei eine lockere Unterhaltung. Letztes Jahr hat die Stadt im Rahmen einer Verschönerungsmaßnahme Teile des Bachlaufes offengelegt, so dass wir uns auf Steinstufen direkt am Ufer setzen können. Schweigend lauschen wir dem Murmeln des Wassers, das direkt vor unseren Füßen die Kiesel umspült. Ich werfe einen schnellen Blick auf Jan. Er hat sich zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Schlagartig wird es mir zum ersten Mal bewusst.
Ich habe mich verliebt.
Dieses Gefühl ist nicht vergleichbar mit einer harmlosen Schwärmerei. Es bedeutet so viel mehr. Ich habe mich in Jan verliebt. Und ich kann nur hoffen, dass er ebenso empfindet.
Er sieht so entspannt und gelöst aus, dass ich dem Impuls widerstehen muss, ihm über die Wange zu streichen. Als hätte er die vorgestellte Berührung gespürt, öffnet er die Augen und erwidert meinen Blick. Für einen unendlichen langen und gleichzeitig viel zu kurzen Moment versinken wir ineinander. Weder kann noch will ich mich von ihm lösen. Er hält mich wie an unsichtbaren Fäden fest, während sich seine intensive Energie bis in mein Innerstes brennt. Ohne diese Verbindung zu durchtrennen, hebt Jan die Hand und streicht mir vorsichtig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Als seine Finger mich berühren, steigt das Kribbeln in meinem Magen fast ins Unerträgliche.
Kontrolle.
Ich muss mich beherrschen. Meine Emotionen dürfen nicht die Überhand nehmen. Krampfhaft versuche ich, meine Gedanken zu leeren und nicht daran zu denken, wie sehr ich Jan will.
Heute ist Samstag, morgen Sonntag, danach sind es noch drei Tage bis zum langen Wochenende.
Seine Augen sind außergewöhnlich hell. Sie schimmern geradezu. Ich will...
Wie viele Stunden sind es bis dahin?
Ein Tag hat 24 Stunden. Glaube ich.
Seine Berührung schickt Stromstöße durch meinen gesamten Körper. Er hat sich aufgesetzt, streicht mit der Hand leicht über meine Wange und umfasst liebevoll meinen Nacken. Anschließend übt er leichten Druck aus und zieht mich zu sich heran. Was, wenn er nun...
Vier Tage mit je 24 Stunden ergeben eine Summe von 96 Stunden. Es sind noch 96 Stunden bis zum langen Wochenende!
Sein Gesicht ist jetzt unmittelbar vor meinem. Er hat den Blickkontakt nicht unterbrochen. Ich fühle seinen warmen Atem auf meiner Haut und bin mir bewusst, dass uns nur wenige Zentimeter voneinander trennen. Trotzdem überwindet er diesen Abstand nicht, sondern hält inne, als ob er um mein Einverständnis bitten würde.
Ich nicke fast unmerklich.
Langsam verkleinert er die ohnehin schon geringe Distanz zwischen uns noch weiter. Vor dem eigentlichen Kontakt erscheint es mir, als würden Funken zwischen uns springen, die nur einen Atemzug davon entfernt sind, Flammen zu schlagen.
Dann treffen unsere Lippen aufeinander.
Obwohl mir die letzte Begegnung als deutliche Warnung im Gedächtnis ist, zieht mir Jans Berührung den Boden unter den
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