Fortunas Tochter
Mexikaner und Chilenen und schließlich auch einige Nordamerikaner und Europäer. Als bekannt wurde, daß Tao Chi’en so kompetent war wie jeder der drei weißen Ärzte und weniger berechnete, besiegten viele ihren Widerwillen gegenüber den »Söhnen des Himmels« und entschlossen sich, die asiatische Heilkunst auszuprobieren. An einigen Tagen war Tao dermaßen in Anspruch genommen, daß Eliza ihm helfen mußte. Sie war fasziniert von seinen feinen, geschickten Händen, wie sie die verschiedenen Pulse in Armen und Beinen erfühlten, den Körper des Kranken abtasteten, als streichelten sie ihn, die Nadeln in geheimnisvolle Punkte setzten, die nur er zu kennen schien. Wie alt war dieser Mann? Sie fragte ihn einmal, und er antwortete, alle seine Reinkarnationen zusammen– gezählt, sei er sicherlich zwischen siebentausend und achttausend Jahre alt. Dem Aussehen nach schätzte sie ihn auf etwa dreißig, aber manchmal, wenn er lachte, kam er ihr jünger vor, als sie selbst es war. Wenn er sich jedoch in äußerster Konzentration über einen Kranken beugte, wirkte er uralt wie eine Schildkröte; dann konnte man ohne weiteres glauben, daß er viele Jahrhunderte auf dem Buckel hatte. Sie beobachtete ihn bewundernd, während er den Urin eines Patienten untersuchte und nach Geruch und Farbe verborgene Leiden feststellte oder wenn er die Augen mit einem Vergrößerungsglas prüfte, um daraus zu folgern, was im Organismus fehlte oder überschüssig war. Bisweilen legte er nur die Hände auf den Bauch oder den Kopf des Patienten, schloß die Augen und sah aus, als hätte er sich in einem langen Traum verloren.
»Was hast du gemacht?« fragte sie ihn später.
»Ich habe seine Schmerzen gefühlt und ihm Energie übertragen. Die negative Energie verursacht Leiden und Krankheiten, die positive Energie kann heilen.«
»Und wie ist diese positive Energie, Tao?«
»Sie ist wie die Liebe: heiß und leuchtend.« Pistolenkugeln entfernen und Stichwunden behandeln waren Routineeingriffe, und Eliza verlor das Schaudern vor dem Blut und lernte menschliches Fleisch nähen mit derselben Ruhe, mit der sie früher die Laken ihrer Aussteuer umsäumt hatte. Die chirurgische Fertigkeit, die er sich in Zusammenarbeit mit Ebanizer Hobbs angeeignet hatte, erwies sich als sehr nützlich für Tao Chi’en. In diesem von Giftschlangen wimmelnden Land fehlte es auch nicht an gebissenen Opfern, die ihm blau verschwollen auf den Schultern ihrer Kameraden angeschleppt wurden. Das verseuchte Wasser verteilte unparteiisch die Cholera, gegen die keiner ein Mittel wußte, und andere Leiden mit beunruhigendem, aber nicht immer tödlichem Verlauf. Tao Chi’en verlangte wenig, aber stets im voraus, denn seiner Erfahrung nach bezahlt ein verängstigter Mann, ohne zu mucken, ein erleichterter dagegen feilscht. Wenn Tao das tat, erschien ihm immer sein alter Lehrer mit vorwurfsvoller Miene, aber er wies das zurück. »Ich kann mir den Luxus nicht leisten, unter diesen Umständen großzügig zu sein, Meister«, murmelte er. Seine Honorarforderungen schlossen keine Betäubung ein, wer den Trost der Drogen oder die goldenen Nadeln wünschte, mußte extra bezahlen.
Eine Ausnahme machte er bei den Dieben, die nach einer oberflächlichen Verhandlung ausgepeitscht wurden oder beide Ohren einbüßten: die Goldsucher rühmten sich ihrer Schnelljustiz, und keiner war bereit, ein Gefängnis zu finanzieren und zu bewachen.
»Warum nimmst du den Spitzbuben kein Geld ab?« fragte Eliza.
»Weil es mir lieber ist, wenn sie mir einen Gefallen schulden«, erwiderte er.
Tao Chi’en schien entschlossen, sich in Sacramento niederzulassen. Er sagte es seiner Freundin nicht, aber er wollte sich nicht fortrühren, damit Lin Zeit hatte, ihn zu finden. Seine Frau hatte sich schon mehrere Wochen nicht bei ihm sehen lassen. Eliza dagegen zählte die Stunden, sie brannte darauf, die Suche fortzusetzen, und je mehr Tage vergingen, um so zwiespältiger wurden ihre Gefühle für ihren Gefährten im Abenteuer. Sie war ihm dankbar für seinen Schutz und für die Art, in der er für sie sorgte, darauf achtete, daß sie sich richtig ernährte, daß sie nachts gut zugedeckt war, ihr seine Kräuter verabreichte und seine Nadeln setzte, um das Qi zu stärken, wie er sagte, aber sie ärgerte sich über seine Ruhe, die sie mit Mangel an Schneid verwechselte. Tao Chi’ens heiter gelassene Miene und sein schnelles Lächeln entzückten sie oft genug, und ebenso oft war sie darüber verdrossen. Sie
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