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Fortunas Tochter

Fortunas Tochter

Titel: Fortunas Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Allende
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Geschichten erzählt, und es hatte immer einen Vorwand gegeben, zu lachen und zu feiern, selbst in den Zeiten der größten Armut. Er trottete hinter dem Maultier her und war überzeugt, daß jeder Schritt ihn immer tiefer in das Gebiet der bösen Geister führte, und fürchtete, daß das Quiet– schen der Räder und die am Wagen hängenden Glöckchen nicht ausreichen würden, ihn zu beschützen. Er konnte den Dialekt der Händler kaum verstehen, aber ein paar aufgeschnappte Worte jagten ihm schreckliche Angst ein. Sie redeten über die vielen unzufriedenen Geister, die sich in der Gegend herumtrieben, verlorene Seelen von Toten, die keine angemessene Bestattung erhalten hatten. Hungersnot, Typhus und Cholera hatten das Land mit Leichen übersät, und die Lebenden reichten nicht aus, um all die vielen Verstorbenen zu ehren. Zum Glück standen die Geister und die Dämonen in dem Ruf, schwerfällig zu sein: sie schafften es nicht, um eine Ecke zu biegen, und sie ließen sich auch leicht mit angebotenen Speisen oder Geschenken aus Papier ablenken. Manchmal jedoch konnte nichts sie fernhalten, und sie nahmen Gestalt an, indem sie jemanden umbrachten, um so frei zu werden, oder sie drangen in die Körper von Fremden ein, um sie zu zwingen, unvorstellbare Greueltaten zu begehen. Inzwi– schen waren mehrere Stunden vergangen; die Hitze und der Durst waren überwältigend, das Kind stolperte alle zwei Schritte, und seine neuen Herren trieben es ungeduldig, wenn auch ohne wirkliche Bosheit mit Rutenstreichen um die Beine an. Als die Sonne unterging, beschlossen sie, zu rasten und ein Lager aufzuschlagen, machten Feuer, bereiteten Tee und teilten sich in kleine Gruppen, um fan tan oder Mah-Jongg zu spielen. Endlich erinnerte sich einer an Vierten Sohn und reichte ihm einen Napf mit Reis und einen Becher Tee, über die er mit der in monatelangem Hungern gewachsenen Gier sofort herfiel. Plötzlich wurden sie von wüstem Geheul aufgeschreckt und sahen sich von einer Staubwolke umgeben. Das Gebrüll der Angreifer mischte sich mit dem der Händler, und der Junge kroch unter den Karren, so weit das Seil reichte, mit dem er angebunden war. Es war keine höllische Schar, wie man sehr schnell erkannte, sondern eine Bande von Wegelagerern, eine der vielen, die in diesen Zeiten so großer Verzweiflung die Straßen unsicher machten und die unfähigen kaiserlichen Soldaten verlach– ten. Kaum waren die Händler nach dem ersten Schreck wieder zu sich gekommen, griffen sie zu den Waffen und stellten sich den Räubern in einem Getöse von Schreien, Drohungen und Schüssen, das nur wenige Minuten dauerte. Als sich Rauch und Staub legten, war einer der Banditen geflohen, und die anderen beiden lagen schlimm verwundet auf der Erde. Sie rissen ihnen die Lappen vom Gesicht und sahen, daß es zwei Jugendliche waren, in Lumpen gehüllt und mit Knüppeln und primitiven Lanzen bewaffnet. Darauf köpften sie sie schleunigst, damit sie die Demütigung erfuhren, diese Welt in Stücken zu verlassen und nicht vollständig, wie sie gekommen waren, und steckten die Köpfe auf Pfähle zu beiden Seiten des Weges. Als sich die Gemüter beruhigt hatten, sahen sie, daß ein Mitglied der Karawane sich mit einer ziemlich schweren Lanzenwunde am Oberschenkel auf dem Boden wälzte. Vierter Sohn, der gelähmt vor Entsetzen unter dem Karren gelegen hatte, kam aus seinem Versteck hervorge– krochen und bat die ehrenwerten Kaufleute, den Verletz– ten behandeln zu dürfen, und da es sonst niemand gekonnt hätte, erlaubten sie es ihm. Er bat um Tee, um das Blut abzuwaschen, dann öffnete er seinen Beutel und zog eine Dose mit bai yao heraus. Diese weiße Paste strich er auf die Wunde, verband das Bein so fest es ging und verkündete ohne zu zögern, daß die Wunde sich in weniger als drei Tagen geschlossen haben werde. Und so geschah es. Dieser Zwischenfall rettete ihn davor, die nächsten zehn Jahre als Sklave zu arbeiten und schlimmer als ein Hund behandelt zu werden, denn seiner Ge– schicklichkeit wegen verkauften ihn die Händler in Kanton an einen berühmten Arzt der traditionellen Medizin und zugleich Meister der Akupunktur - einen zhong yi -, der einen Gehilfen suchte. Bei diesem Weisen erwarb Vierter Sohn die Kenntnisse, die er bei seinem bäuerlichen Vater nie gefunden hätte.
    Der alte Meister war ein sanfter Mann mit einem Gesicht so rund wie der Mond, langsamer Sprache und kräftigen, empfindsamen Händen, seinen besten Instrumenten. Als erstes gab er

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