Im Taumel der Herzen - Roman
1
E s mag vielleicht verwunderlich erscheinen, dass jemand den Hyde Park als seinen eigenen Garten betrachtete, aber Julia Miller tat es. In London aufgewachsen, ritt sie dort fast täglich aus, seit sie denken konnte. Bereits als kleines Mädchen hatte sie ihr erstes Pony bekommen und später Vollblutpferde. Die Menschen winkten ihr zu – egal, ob sie sie kannten oder nicht, einfach, weil sie an ihren Anblick gewöhnt waren. Das galt für die feinen Leute ebenso wie für die Ladenangestellten, die auf dem Weg zur Arbeit die Abkürzung durch den Park nahmen, oder die Gärtner. Sie alle bemerkten Julia und behandelten sie wie eine der Ihren.
Julia, die groß, blond und modisch gekleidet war, erwiderte jedes Lächeln und Winken. Sie war grundsätzlich freundlich, und die Leute reagierten entsprechend auf sie.
Noch seltsamer als Julias Angewohnheit, einen derart riesigen Park als ihren persönlichen Reitplatz zu betrachten, muteten ihre Lebensumstände an. Sie war im nobelsten Teil der Stadt aufgewachsen, obwohl ihre Familie keineswegs zu den oberen Zehntausend gehörte. Dass sie in einem der größeren Häuser am Berkeley Square lebte, lag daran, dass sich nicht nur der Adel solch große Stadthäuser leisten konnte. Tatsächlich war ihre Familie, deren Nachname auf einen Müller zurückging, welcher sich im Mittelalter nach seiner Zunft benannt hatte, unter den ersten gewesen, die damals um die
Mitte des achtzehnten Jahrhunderts Grund erstanden und bauten, sodass die Millers nun schon seit vielen Generationen dort lebten.
Die Leute im Viertel kannten und mochten Julia. Ihre engste Freundin, Carol Roberts, war eine höhere Tochter aus adligem Hause, und auch die anderen jungen Frauen der feinen Gesellschaft, die sie durch Carol oder aus dem privaten Mädchenpensionat kannte, welches Julia zusammen mit ihnen besucht hatte, mochten sie und luden sie zu ihren Festen ein. Dass sie sich durch Julias hübsches Aussehen und ihren Reichtum nicht im Geringsten bedroht fühlten, lag daran, dass sie bereits verlobt war. Genau genommen war sie das schon fast seit ihrer Geburt.
»Was für eine Überraschung, dass ich dich hier treffe!«, vernahm sie eine weibliche Stimme hinter ihr. Carol Roberts schloss auf, und ihr Pferd fiel neben Julias in einen leichten Trab.
Julia lachte ihre zierliche schwarzhaarige Freundin an. »Diese Bemerkung hätte eigentlich mir zugestanden. Du reitest ja kaum noch!«
Carol seufzte. »Ich weiß. Harry sieht es nicht gern, insbesondere, seit wir versuchen, ein Kind zu bekommen. Er möchte nicht, dass ich riskiere, es zu verlieren, bevor wir überhaupt wissen, dass es gezeugt worden ist.«
Julia war bekannt, dass Reiten tatsächlich eine Fehlgeburt auslösen konnte. »Warum gehst du dieses Risiko dann ein?«
»Weil ich nicht schwanger bin«, erwiderte Carol und verzog dabei enttäuscht den Mund.
Julia nickte mitfühlend.
»Außerdem«, fügte Carol hinzu, »habe ich unsere gemeinsamen Ausritte derart vermisst, dass ich bereit bin, Harry für ein paar Tage zu trotzen – zumindest, solange ich meine Regel
habe und wir ohnehin nicht versuchen werden, ein Kind zu zeugen.«
»Er war nicht zu Hause, als du losgeritten bist, habe ich recht?«, mutmaßte Julia.
Carol lachte. Ihre blauen Augen funkelten schelmisch. »In der Tat, und ich werde auch wieder zurück sein, bevor er eintrifft. «
Julia machte sich keine Sorgen, dass ihre Freundin Probleme mit ihrem Mann bekommen könnte. Harold Roberts vergötterte seine Frau. Die beiden hatten sich bereits gekannt und gemocht, als Carol drei Jahre zuvor in die Gesellschaft eingeführt worden war, sodass es niemanden verwundert hatte, als sie sich schon wenige Wochen nach Carols Debüt verlobten und ein paar Monate später heirateten.
Carol und Julia waren ihr Leben lang Nachbarinnen gewesen. Die Häuser am Berkeley Square, in denen ihre beiden Familien wohnten, standen direkt nebeneinander, nur durch eine schmale Gasse voneinander getrennt. Sogar die Schlafzimmerfenster der Mädchen hatten einander direkt gegen-übergelegen – dafür hatten die beiden schon gesorgt! –, sodass sie selbst dann, wenn die eine einmal nicht bei der anderen zu Besuch war, durch das Fenster miteinander reden konnten, ohne ihre Stimmen erheben zu müssen. Kein Wunder, dass sie beste Freundinnen geworden waren!
Julia vermisste Carol sehr. Obwohl sie einander nach wie vor häufig besuchten, wenn Carol sich in London aufhielt, wohnten sie nicht mehr Tür an Tür. Carol war
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