Fossil
du in einer offenen Scheune groß geworden?», fragt Deacon, und deshalb zieht Chance die Tür hinter sich zu. «Ich kann es mir nicht leisten, das gesamte gottverdammte Gebäude mit meiner Klimaanlage herunterzukühlen.»
Dabei weiß sie, dass das Gerät im Fenster seit letztem Juli nicht mehr funktioniert. Es ist immer heiß in der Wohnung, nicht einmal der kleinste Lufthauch kommt durch die Fenster. Aber sie sagt nichts, steht nur still da, während Elise herumläuft und ihre Sachen zusammensammelt.
«Ich dachte, diesmal kämst du wirklich nicht zurück», sagt Deke, zieht Elise’ bonbonrosafarbenen BH vom Sofarücken und hält ihn ihr hin. «Ich dachte, du und das beschissene alte Auto fahrt einfach weiter und immer weiter. Gott, ich hätte es wirklich besser wissen müssen.»
«Du solltest nicht immer wieder zu ihm zurückgehen», flüstert Elise, hakt den BH zu, steht in Unterwäsche da und starrt auf ihre Füße. «Das hast du nicht nötig.»
«Ich weiß», sagt Chance und wünscht, es würde nicht immer so klingen, als müsse sie sich verteidigen. Sie stellt die braune Papiertüte mit ihren Supermarkteinkäufen auf einem Stuhl neben der Tür ab.
«Du kannst nichts mehr daran ändern, was geschehen ist.» Das dunkle Blut aus Elise’ Handgelenken hat einen großen klebrigfeuchten Flecken neben ihren Füßen auf den Teppich gemacht. An der Stelle steht Deacon immer auf, um die Fenster zu schließen, Hitze hin oder her, weil sie alle die Vögel am Fenster hören können, die ängstlichen Vögel, die hereinzukommen versuchen.
«Du machst es nur schlimmer», sagt Elise.
«Wie doch die Zeit verfliegt.» Deacon spricht jetzt so leise, dass Chance ihn kaum verstehen kann wegen des Lärms, den die Vögel machen. Der Fensterrahmen klappert, und die federharten Körper werfen sich gegen das Glas. Sie kann schon spinnennetzartige Haarrisse von den Schnäbeln im Glas erkennen, noch eine Minute, und die Scheibe bricht, und das Zimmer wird sie einatmen, all diese panischen kleinen Körper, all diese hackenden Schnäbel.
Das träumt Chance, als das Telefon klingelt, und Elise sieht zu ihr auf, starrt sie böse aus hungrigen Amselaugen an, Krähenaugen im blassen Gesicht.
«Worauf wartest du noch, Chance? Irgendwann musst du sowieso wieder zurück.»
Chance wacht in dem Haus auf, das ihr Urgroßvater gebaut hat, dem Haus, in dem ihre Großeltern sie aufzogen, etwas anderes aus ihr machten als eine Waise, und das Telefon am Ende des Korridors klingelt; ein schrilles, beharrliches Läuten, das sie aus dem Traum und einer Welt gerissen hat, in der Elise noch am Leben war. Jetzt ist die Welt leer, abgesehen von Kopfweh und schmerzenden Gliedern, weil Chance den ganzen Tag auf dem harten Holzfußboden geschlafen hat, und dem Gefühl, dass sie Deacon und Elise noch einmal verloren hat. Taumelnd schafft sie es, sich aufzurichten, stößt sich dabei aber heftig den Ellbogen an der schmiedeeisernen Garderobenstange. Es tut so weh, dass sie sich gleich wieder hinsetzen muss. Und das Telefon hört noch immer nicht auf zu klingeln.
«Ich komme», als ob es sie hören könnte, als ob es das Ding kümmern würde, dass sie sich den Ellbogen an der verdammten Garderobenstange gestoßen hat. Als sie endlich den schweren Hörer abnimmt – das Telefon stammt aus der Zeit vor ihrer Geburt, schwarzes Bakelit und eine verdrehte, stoffüberzogene Schnur –, spricht schon jemand am anderen Ende.
«Chance, bist du das?, Chance?»
«Ja.» Sie versucht, die Stimme zu erkennen, die Stimme einer alten Frau, aber ihr Kopf schwirrt noch immer von ihrem Traum, einem sich drehenden Kaleidoskop aus Gesichtern und Flügeln und der vogeläugigen Elise auf einem blutbefleckten Teppich.
«Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht, Chance. Du bist nicht mehr vorbeigekommen nach dem Trauergottesdienst, und da wurden wir unruhig.»
Also ist es Tante Josephine, die Schwester ihrer Großmutter. Chance quetscht sich in den schmalen Telefonsessel aus Brokat und Mahagoni und reibt sich dabei den Ellbogen, versucht, die Stimme durch den pulsierenden Schmerz in ihrem Schädel zu filtern.
«Tut mir leid, Tante Josie, aber ich bin noch ein bisschen herumgefahren. Ich brauchte etwas Zeit für mich, um nachzudenken.»
«Na gut», sagt Josephine missbilligend. Chance muss sie nicht sehen, um zu wissen, dass ihre Tante die Stirn runzelt, in tiefe Falten legt. «Trotzdem hättest du anrufen müssen. Wir machen uns Sorgen um dich, Chance.»
«Mir geht
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