Fossil
sie an.
«Ist etwas?», fragt Dancy ihn, so leise, dass niemand sie wegen Redens in der Bibliothek zurechtweisen kann. Er schaut über die Schulter, ein schuldbewusster schneller Blick zu dem schäbigen Korral aus Schreibtischen, und Dancy merkt, dass er sich fürchtet, dass er Ärger bekommen kann für das, was er vorhat. Vielleicht schon dafür, dass er nur mit ihr redet, jedenfalls ist er im Augenblick interessanter als die Zeitschrift.
«Habe ich irgendetwas gemacht?»
«Nein, nein», sagt er, greift sich in die Tasche und fördert sein schickes Lederportemonnaie zutage, schokoladenmilchfarbenes Leder, fummelt darin herum, und sie erkennt Ein-, Zehn- und Zwanzigdollarscheine und Kreditkarten. Vielleicht ist heute ihr Glückstag. Vielleicht gibt es Essen von McDonald’s oder Tacos heute Abend und nicht wieder den Fraß, den sie ihr im Obdachlosenheim vorsetzen. «Ich dachte nur, Sie könnten etwas Hilfe gebrauchen», sagt er, «und möglicherweise kann ich helfen.» Er holt kein Geld aus dem Portemonnaie, nur eine Karte, aber sie nimmt sie trotzdem. Eine einfache weiße Karte, mit einfachen schwarzen Buchstaben, DER GUTE HIERTE, TÄGLICH 24-STUNDEN-KRISENTELEFON, die Rufnummer einer Einrichtung der Baptistischen Studentenvereinigung der Samford University. In die linke obere Ecke ist ein Kreuz gedruckt.
«Ich bin katholisch», sagt sie zu dem Bibliothekar, und er runzelt die Stirn, nur das kürzeste Stirnrunzeln, dann kehrt seine nervöse Besorgnis zurück, und Dancy will ihm die Karte wiedergeben. «Außerdem ist Hirte falsch gedruckt», sagt sie. «Das schreibt man nicht mit IE.» Es folgt ein langer Augenblick, in dem sie ihm die Karte hinhält, die Rollen sind jetzt vertauscht, und erst glaubt sie schon, dass er die Karte nicht zurücknehmen wird, aus welchem Grund auch immer, vielleicht denkt er, er könnte sich bei ihr mit irgendetwas anstecken. Mädchenkeime, Läuse, irgendeine schreckliche Hautkrankheit. Er wirkt verwirrt, verärgert und unsicher. Sie überlegt, ob sie seine verdammte Karte einfach hätte nehmen sollen, ja, vielen Dank, um sie dann für irgendeinen Penner hier auf dem Tisch liegenzulassen, den so etwas interessiert. Zu spät, er nimmt die Karte zurück, pflückt sie aus ihren Fingern, steckt sie aber nicht wieder ins Portemonnaie.
«Ich wollte wirklich nur helfen», sagt er schroff. Es klingt eher, als täte er sich selbst leid anstatt sie ihm. Dancy wendet sich erneut dem National Geographic zu und sieht den Bibliothekar nicht mehr an. Hoffentlich haut er jetzt ab und lässt sie in Ruhe.
«Danke», sagt sie und lauscht auf seine Schritte, Collegeschuhe, leise auf dem Teppich, verhaltene Schritte zurück zu seinem Schreibtisch, und ein paar Minuten später, als Dancy von einem Artikel über Jade aufschaut, erwischt sie ihn dabei, wie er sie beobachtet, sie lächelt, und der Bibliothekar sieht schnell weg, auf den Stapel ordentlich aufeinandergelegter Papiere auf seinem Schreibtisch.
Zwei Wochen sind seit der Fahrt hierher vergangen, fast die ganze Nacht hat sie damals im Bus aus Waycross verbracht. Der Greyhound wand sich nordwärts durch dunkle Straßen, Landstraßen auf Nebenrouten, wo heute noch Busse mitten in der Nacht halten, um Fahrgäste mitzunehmen, und Dancy versuchte beinahe auf der ganzen Strecke zu schlafen. Es war etwas Tröstliches an dem Geruch von Diesel und dem eintönigen Geräusch der Reifen auf der Straße. Ein Sitz ganz für sie allein, nachdem die Leute sie richtig zu sehen bekommen hatten, so konnte sie sich ganz ausstrecken und den alten Seesack als Kopfkissen benutzen, mit ihren Klamotten und Büchern und fünfzehn Dollar, die in einer Socke steckten. Der Seesack gehörte ihrem Großvater, Grandpa Flammarion, der aus Deutschland ohne sein linkes Bein zurückgekommen war. Sie schloss die Augen und hörte auf das Geräusch des Motors, der klang wie ein übergroßes Kätzchen, schnurrte wie ein mechanisch aufgezogener Löwe, um ihr beim Einschlafen zu helfen. Aber die Träume kamen dann zu nah, die Träume und das, wovor sie davonlief, wohin sie lief, Angst vor dem, was sie getan hatte und was noch zu tun blieb. Schließlich gab Dancy auf und schaute hinaus auf die nachtbedeckten Felder und Wälder und Städtchen, die an ihr vorübereilten, sah genau hin aus zusammengekniffenen Augen, wann immer der Bus an einer Tankstelle hielt und jemand Neues einstieg. Da hatte sie ihre Sonnenbrille noch und setzte sie gegen die gelegentlich aufblitzenden
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