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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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überlegt, wo ihr Großvater den Schlüssel aufbewahrt hat.
    Sie legt das zur Hälfte gegessene Sandwich auf den Fußboden, es ist sowieso niemand mehr da, der sie wegen der Krümel anschreien könnte, trinkt noch einen Schluck Rootbeer und streckt sich aus, starrt einen Moment an die Decke, bevor sie die Augen schließt, starrt dann das Nichts hinter ihren Lidern an, hat den teigigscharfen Nachgeschmack ihres kalten Abendessens auf der Zunge und wünscht sich, sie könnte aufhören, an Elise zu denken. Dass sie aufhören könnte, an die Träume von ihr zu denken, den Verlust und die Schuldgefühle, weil sie kaum um ihren Großvater geweint hat, Elise ist noch zu kurz her, um schon wieder jemand anderen zu betrauern, irgendetwas anderes. Wahrscheinlich kann man nur ein bestimmtes Maß an Schmerz fühlen, mehr erwartet wohl auch niemand. Und dann die plötzliche, ungerufene Vision eines von den Gleisen gesprungenen Zuges. Alles wird neben die Schienen geschleudert, verdrehte Körper zwischen den rauchenden Wrackteilen. Genau so fühlt es sich an, hier zu sein, am Leben und allein, ohne die geringste Ahnung, wie sie es ertragen soll, morgen aufzuwachen.
    «Aufhören», sagt Chance laut, mit einer zornesgroben, verächtlichen Stimme, die sie selbst kaum wiedererkennt. «Herrgott, hör einfach verdammt nochmal auf.» Aber sie weint schon wieder. Ihre Augen brennen, und sie kann das Geheule nicht mehr hören, hat den Geruch und den salzöden Geschmack ihrer eigenen nutzlosen Tränen satt. Sie bedeckt das Gesicht mit dem Arm, versteckt sich vor niemand anders als sich selbst, macht es noch etwas dunkler, und nach ein paar Minuten schläft sie wieder.

KAPITEL 2
    DANCY
     
     
     
    Das Albinomädchen liest den National Geographie, aufmerksame rote Augen auf die glänzenden, sparsam mit Text bedruckten Seiten gerichtet – Äthiopien, Taiwan, Cro-Magnon-Höhlenzeichnungen in Frankreich. Sie kommt nun schon seit fast zwei Wochen her, die Bibliothek liegt um die Ecke vom Obdachlosenheim, und die Bibliothekare lassen sie in Ruhe, solange sie nicht einschläft, solange sie nicht vergisst, wo sie ist, und anfängt, zu singen oder zu pfeifen, oder die Füße auf den Tisch legt. Wenn sie glauben, dass sie es nicht merkt, starren sie sie an, mit hohneskalten Grimassen wegen ihres schmutzigweißen Haars und der abgerissenen Klamotten, die alten Frauen mit ihren Schmetterlingsbrillen und die jungen schwulen Männer in ihren billigen Anzügen, die teuer wirken sollen. Die Teenager sind noch schlimmer: schwarze Kids, die aus den Ghettos einen Block weiter geflüchtet sind, hämisch kichern und mit Fingern auf sie zeigen, gemeines Flüstern. Hey, Freak, hey, weißes Mädchen, wie hast du es geschafft, so weiß zu werden? Da sind ihr die hässlichen Seitenblicke der Bibliothekare lieber.
    Dancy Flammarion blättert um. Auf der nächsten Seite prangt die große Fotografie eines fernen, fernen Orts, brütende, blutergussdunkle Wolken und schaumweißbekrönte Wellen, die sich mit aller Macht gegen die Steilküste werfen, einzelne gezackte Felsen weiter draußen im Meer und ein paar graue Möwen, die gegen den Sturmwind anfliegen, ohne von der Stelle zu kommen – Irland, Oregon, Wales –, irgendwo, wo sie noch nie war und wahrscheinlich auch nie hinkommen wird. Wenigstens macht sich jemand die Mühe, so entlegene Plätze zu fotografieren, damit sie weiß, dass dies hier nicht die ganze Welt ist: die sommerrissigen Straßen von Birmingham, Alabama, die Sümpfe und das Kiefernwäldchen von Oklahoma County, Florida, die wilden, geschundenen Gebiete dazwischen – der Teil der Welt, der ihr geschenkt wurde. Es hätte auch weniger sein können, das weiß sie, sie hätte das Leben so zubringen können wie ihre Großmutter oder ihre Mutter, nie weit genug von zu Hause wegkommen, um festzustellen, dass es auch Gegenden ohne Alligatoren und Yuccapalmen gibt.
    Plötzlich die Gewissheit, dass sie beobachtet wird, von jemandem ganz in der Nähe. Sie sieht auf. Es ist einer von den schwulen Jungs, blondes Haar und ein Hauch von Sommersprossen auf dem Nasenrücken, unruhige Hände, die mit den Fingern spielen. Ein nervöser Bursche, seinetwegen muss sie den Blick abwenden vom sturmschatten-kühlen Strand im Magazin. Sie blinzelt zu ihm hinauf, obwohl das Licht der Leuchtröhren ihr in den Augen wehtut und sie wünscht, sie hätte ihre Sonnenbrille nicht verloren. Der ängstliche schwule Junge scheint etwas sagen zu wollen, steht aber nur da und starrt

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