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Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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schwacher Abdruck in seinem Sitz, das Sitzkissen hob sich langsam wie Teig, füllte jedes Anzeichen aus, dass er überhaupt je da gewesen war, und ihr Herz schlug so laut, dass wahrscheinlich jeder im Bus es hören konnte. Wusch und klapp, als die Bustüren sich weit öffneten, und sie glaubte zu sehen, wie der Mann ausstieg, seine Silhouette verschwommen vor der Windschutzscheibe, bevor er die Stufen hinunter war und hinaus ins grelle Licht, helle, helle Lichter, um etwas Dunkles vor ihren schwachen Augen zu verbergen.
    «Herrgott», sagte sie, laut genug, dass sich jemand umdrehte und sie böse ansah, also behielt sie den Rest für sich. Das war nur ein Mann, mehr nicht, nur ein Mann in einem Bus, und du machst dir gleich in die Hosen, weil du solche Angst hast. Einen Moment lang klang es sogar gut, überzeugend, und dann, wenn auch zaghaft, meldete sich die leisere Stimme, die sie tief in ihr Innerstes verbannt hatte. Woher wusste er dann deinen Namen?, fragte sie, und Dancy schaute schnell wieder aus dem Fenster, setzte die Sonnenbrille zurück auf die Nase und beobachtete, wie die Männer die Koffer aus dem Bauch des Busses luden.
     
     
    Dancy hat sich ganz in den Hochglanzseiten von 1963 verloren, ist schon halb durch mit dem zweiten schweren Bibliothekssammelband des National Geographic an diesem Vormittag, ein halbes Jahr zwischen feste braune Buchdeckel genäht. Als sie aufschaut, blinzelt sie und erkennt ein großes Mädchen am Auskunftstresen. Nur Haut und Knochen, hätte ihre Oma gesagt, füttert dich denn niemand? Dancy klappt das Buch zu, klappt das Jahr zu, den Monat, die Geschichte über die Ausgrabungen in Ägypten, noch nicht zu Ende gelesen, und beobachtet das große Mädchen am Tresen, wie es mit dem Mann dahinter spricht. Das Mädchen hat einen Pappkarton auf dem Tresen abgestellt und zeigt immer wieder darauf. Dancy würde gern hören, was die beiden sagen, sehen, was in dem Karton ist, aber das Mädchen flüstert und ist außerdem zu weit entfernt. Es hat Haare, die weder lang noch kurz sind, strähnigglattes Haar, in der Farbe aufgebrochener Walnussschalen, und Dancy weiß, es ist das Mädchen, sie kennt seinen Namen nicht, aber dafür bleibt noch genug Zeit, seinetwegen sitzt sie hier, tagaus, tagein, und wartet darauf, dass es kommt.
    Dancy legt den National Geographic beiseite, Januar bis Juni, sechs Monate auf glattlackiertem Holz, schiebt den Stuhl zurück und steht auf. Der Junge, der ihr die Gute-Hirte-Karte geben wollte, schaut von seinem Schreibtisch herüber. Ein besitzergreifender, fast vorwurfsvoller Blick, als wäre sie eine verpasste Gelegenheit, ein goldener Stern neben seinem Namen, den er nun nie bekommen wird, weil sie nicht kooperieren wollte, weil sie nicht begreift, dass jemand tatsächlich einfach nur helfen will. Dancy ignoriert ihn und hebt ihren Seesack vom Bibliotheksfußboden auf. Das braunhaarige Mädchen redet noch immer, zeigt noch immer auf ihren Karton, ein Campbell’s-Tomatensuppe-Karton, aber da kann ja alles Mögliche drin sein, denkt Dancy.
    Sie zählt die Schritte, besser, als darüber nachzugrübeln, was zum Teufel sie gleich sagen soll, jetzt besser an etwas anderes denken, wie zum Beispiel der grobe beigefarbene Teppich unter ihren Füßen in glattes beigefarbenes Linoleum übergeht, auf halbem Weg zum Auskunftstresen. Zwölf Schritte von ihrem Tisch bis dahin, dann abgewetztes Linoleum, und als sie bei siebenundzwanzig ankommt und wieder aufsieht, hat das Mädchen den Karton hochgenommen, trägt ihn unterm linken Arm, lehnt sich etwas nach rechts zum Ausgleich, um sich auszubalancieren, und der Schwarze hinterm Tresen zeigt zu den Fahrstühlen, zeigt auf das große offene Atrium im Herzen des Bibliotheksgebäudes, den ersten oder zweiten oder dritten Stock, das kann man so nicht entscheiden. Dancy sieht am Gesicht des Mädchens, daran, wie die drahtdünnen Muskeln in seinem Arm herausstehen, dass der Karton schwer ist. Sie bleibt bei einunddreißig Schritten stehen. Falls das Mädchen zum Fahrstuhl will, muss es genau an ihr vorbei.
    «Danke», sagt das Mädchen nun lauter, oder Dancy ist nur nah genug dran, um es zu hören, und der Mann hinterm Tresen nickt und beginnt wieder zu arbeiten hinter seinem Computerbildschirm. Dancy hatte recht, es dauert nur ein paar Sekunden, bis das Mädchen mit dem Walnusshaar auf sie zugeht. Und natürlich sieht es Dancy, natürlich bemerkt es ein Mädchen mit einer so weißen Haut, dass es ein Wunder ist, dass man

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