Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
ausgesprochen geringfügiger Besitzunterschiede, die den einen zum Konterrevolutionär, den anderen zum Revolutionär stempeln. Die in der Marx’schen Theorie dynamische Kategorie der Klasse, die in sich die emanzipatorische Vorstellung einer klassenlosen Gesellschaft beinhaltet, wird in eine statische Herkunftskategorie transformiert, in der das Individuum ohne eigenes Zutun ein Leben lang eingesperrt bleibt. Die gesellschaftliche Schande einer falschen Klassenzugehörigkeit kann nicht durch eigene Aktivität getilgt werden, sondern nur durch einen Gnadenakt der höchsten Autorität. Der von den Massen ausgeübte Terror befestigt durch diese himmelschreienden Ungerechtigkeiten die allerhöchste Autorität auf Erden, die als Diktatur des Proletariats ausgegebene Parteidiktatur, die das ganze Land in ein Gefängnis verwandelt, wie der
blinde Erhu-Spieler
zu bezeugen weiß. Die in der Kulturrevolution wiederholte Technik einer Massenmobilisierung durch Repression, bei der Millionen von Menschen dem Volkszorn ausgeliefert wurden, konnte sich schon auf die vorausgegangenen Schreckenskampagnen mit ihren Liquidationen unbewaffneter Menschen und endlosen Demütigungen wehrloser Opfer beziehen, um flächendeckend Todesangst zu erzeugen. Die Roten Garden brauchten nur noch zitieren, statt zu liquidieren. Dennoch verloren Millionen von Menschen im Milliardenvolk der Chinesen während dieser zwölfjährigen Schreckenszeit ihr Leben.
Die Roten Garden produzierten in der Dekade ihres ungehemmten Wirkens ( 1966 bis 1976 ) ein anarchisches Chaos, das erst Ende der siebziger Jahre von der letzten intakten gesellschaftlichen Institution, der Volksbefreiungsarmee, beendet wurde. Mao hatte mit diesem machtpolitischen Hasardspiel nicht nur das ganze Land in ein blutiges Revolutionstheater verwandelt, sondern auch die Autorität der Partei zerstört. Man erinnere sich: Der
Konterrevolutionär
, der gar keiner ist, sondern durch die Partei zu einem gemacht wird, stammt aus einer mustergültigen »roten Familie«. Die revolutionäre Erfahrung seines Vaters, die Partei habe auch in den unwahrscheinlichsten Fällen immer recht, kann er nach dem, was er am 4 . und 5 . Juni 1989 am
Tiananmen
gesehen hat, nicht mehr teilen. Mit einer Volksarmee, die auf das unbewaffnete Volk schießt, ist auch die allerletzte Autorität delegitimiert. Die Kategorien der Revolution haben ihre Bestimmtheit verloren; sie sind leer, ohne Bedeutung. Der Fluch des Vaters ist vor allem schrecklich, weil er Ausdruck von Ohnmacht ist. Der Vater kann nur noch körperlich reagieren: Schlaganfall, politischer Herztod. Die absolute Macht produziert das totale Chaos. Die Selbstverwirklichung der Macht, die ihr ewige Dauer gewähren und ihre Gegner in den Abgrund namenlosen Vergessens stürzen soll, kann nicht gelingen ohne lebendige Menschen. Kafkas von Benjamin codifiziertes und von Herbert Marcuse nach langem Vergessen in Erinnerung gerufenes Wort »Nur um der Hoffnungslosen ist uns Hoffnung gegeben« [138] begleitet alle die, die der Nomade wider Willen Liao Yiwu trifft. Den Anonymen gibt er ihre Namen wieder, die Verbannten holt er in den Gesichtskreis der Menschheit zurück. Dieses Buch ist ein riesiger Gedenkstein aus lebendigen Gesprächen. Den Obdachlosen gibt Liao Yiwu eine Heimat; die Erinnerung an das unermessliche Leid ist eine Religion ohne Mythos. Der Mythos, die Sage von der Revolution und ihren heldenhaften Kämpfen, hatte die Gewalt verklärt; die erinnernden Gespräche entzaubern sie. Liao Yiwus Lehrmeister Obdachlosigkeit und Gefängnis ermöglichen Eingedenken und Aufklärung zugleich.
Wie lässt sich nach all dem noch leben?
Fräulein Hallo
gibt uns ein Bild davon. Der kapitalistische Wildwuchs, der mit Deng Hsiao Pings »Vier Modernisierungen« in Landwirtschaft, Industrie, Wissenschaft/Technik und Verteidigung nach 1978 einsetzte, ermöglichte es vielen Verbannten, vom Land in die Stadt zurückzukehren. Mobilität wurde gefördert, nicht mehr explizit unterdrückt. Das nomadische Element in einer tendenziell statischen Gesellschaft, die den Landbewohner an die Scholle fesselte, wurde von den neuen Lebensumständen geradezu produziert. Der Arbeitskräftebedarf in den boomenden Küstenstädten und Grenzregionen brachte das Phänomen Wanderarbeiter hervor, die wiederum für den Aufschwung auf dem Lande die nötigen Transferleistungen erwirtschaften: Ohne sie können Millionen von bäuerlichen Familien nicht überleben. Auch die aufs Land verbannten
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