Frag die Toten
ihn sehr lieben.«
»Ach? Sie spüren das?«
»Ja, ich spüre das. Und ich weiß, dass Sie sich in Wirklichkeit große Sorgen um ihn machen.«
»Weil Sie diese hellseherische Gabe besitzen?«, fragte Marcia sarkastisch.
»Nein«, antwortete Keisha. »Weil ich Mutter bin. Ich habe auch einen Sohn.«
Marcias Miene wurde ein winziges bisschen weicher.
»Matthew. Er ist zehn. Und glauben Sie mir, es gibt Tage, da … Aber egal, was er tut, was er in der Schule anstellt, ich habe ihn sehr lieb. Und daran würde sich auch nichts ändern, ganz gleich, was er vielleicht einmal tut. Manchmal würde ich ihm am liebsten den Hals umdrehen, aber ich würde ihn dabei immer noch lieben.« Keisha lächelte. »Das war natürlich nicht ernst gemeint. Das mit dem Halsumdrehen.«
»Nein. Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Marcia. »Justin, ich schwöre … manchmal möchte man ihnen wirklich ein wenig Verstand hineinprügeln.«
»Wem sagen Sie das!«
»Er machte schon Ärger, da konnte er gerade mal laufen. Aber als Teenager war er nicht mehr zu bändigen. Alkohol, Drogen, Schule schwänzen. Ich habe ihm kein Geld mehr gegeben, weil ich wusste, dass er es ohnehin nur für Drogen verpulvern würde. Was einem aber wirklich das Herz bricht: Er ist so ein
kluger
Junge.«
»Das glaube ich gern.«
»Ich meine, wenn er etwas wirklich will, dann schafft er das auch. Wie er sich mit Computern auskennt. Er kann ganze Zahlenkolonnen im Kopf addieren. Sie können ihn fragen, was ist vierhundertzwanzig mal sechshundertdrei, und er rechnet es Ihnen aus. Einfach so. Im Kopf. Wahrscheinlich ist er so eine Art Genie, aber statt seinen Verstand für etwas Sinnvolles zu gebrauchen, benutzt er ihn nur dazu, andere zu manipulieren. Seiner Mutter oder«, sie nickte in die Richtung, in die ihr Mann verschwunden war, »seinem Stiefvater Geld abzuluchsen. Ich weiß, dass Dwayne ihm hinter meinem Rücken Geld gibt. Er hat eine Schwäche für ihn, hält mich für zu streng. Ich glaube, die Aussicht, Vater zu werden, wenn auch nur Stiefvater, hat ihn von Anfang an für alle Fehler Justins blind gemacht. Aber irgendwie … irgendwas stimmt mit dem Jungen nicht. Manchmal, ich weiß, das klingt jetzt schrecklich, aber manchmal macht er mir richtig Angst. Nicht physisch, sondern das, was in seinem Kopf vorgeht. Ich wünsche mir nur –«
Und mit einem Mal stiegen ihr die Tränen auf und liefen ihr über die Wangen. »O Gott, hoffentlich ist ihm nichts passiert!«
Keisha stand auf und setzte sich zu Marcia Taggart aufs Sofa. »Es wird alles gut«, sagte sie.
»Ich hoffe, das hier reicht«, sagte Dwayne, der soeben mit verschiedenen Gegenständen ins Zimmer zurückkehrte.
»Legen Sie sie hierher.« Keisha deutete auf den Couchtisch, auf den sie bereits zwei von ihren Visitenkarten gelegt hatte.
Dwayne breitete vorsichtig alles vor ihr aus. Einen iPod, eine Taschenbuchausgabe von
American Psycho
, einen unterschriebenen Scheck, eine Sammelfigur aus Plastik, die eine Superheldin mit grotesker Oberweite darstellte.
Keisha berührte sie unschlüssig. »Ich weiß nicht – hätten Sie vielleicht ein Kleidungsstück? Etwas, das Justin regelmäßig trägt? Das einen Hinweis auf seine Persönlichkeit geben könnte?«
»Hol eine von seinen Mützen«, sagte Marcia. Sie sah Keisha an. Ihr Blick war plötzlich sehr müde. »Würde eine Mütze helfen?«
»Ich glaube schon. Inzwischen will ich mir die hier ansehen.«
Marcia nahm den Scheck, den Dwayne Keisha zusammen mit den anderen Dingen gebracht hatte. Ihre Miene verfinsterte sich. Sie schüttelte den Kopf, faltete den Scheck und behielt ihn in der geschlossenen Faust. Mit der anderen Hand ergriff sie die Action-Figur und betrachtete sie, als wäre sie ein obskures Artefakt einer fremden Zivilisation.
»Justin sammelt das Zeug«, sagte sie. »Ich würde sie am liebsten alle in den Müll werfen. Was fängt ein Mann von über zwanzig mit solchem Spielzeug an? Er muss Hunderte davon haben. Ich weiß noch nicht mal, wer das hier sein soll. Wonder Woman oder –«
»Pst«, sagte Keisha leise und schloss die Augen. Sie nahm Marcia die Figur aus der Hand und betastete sie ein paar Sekunden. Dann öffnete sie die Augen und nahm den iPod vom Tisch.
»Den benutzt er viel«, sagte Keisha.
»Stimmt.«
»Ich spüre … wenn er ihn bei sich hat, dann trägt er ihn oft in seiner Hemdtasche, dicht an seinem Herzen«, fuhr Keisha fort.
»Na, ich nehme an, das tun viele andere auch«, sagte Marcia. Ihr Blick
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