Frag die Toten
drückte wieder Skepsis aus. »Wenn Sie die Ohrstöpsel anfassen, werden Sie dann sagen, dass er sie dicht an seinem Hirn trug?«
Keisha lächelte betrübt. »Ich dachte, wir kämen uns langsam näher.«
»Ich sage ja nur, dass das eine ziemlich naheliegende Bemerkung über den iPod ist.«
Keisha schloss die Augen wieder und strich mit den Fingern über die kühle Oberfläche des Geräts. »Ich sehe … schläft Justin viel?«
Marcia kniff die Augen zusammen. »Keine Ahnung. Ich meine, in diesem Alter tun sie das doch alle, oder? Was soll diese Frage: Schläft er viel?«
»Ich weiß nicht. Ich sehe ihn eben … Ich bin sicher, das hat nichts zu bedeuten.«
»Nein, was meinen Sie damit?«, fragte Marcia. Ganz schön viel Interesse von einer Zynikerin wie ihr.
»Ich sehe ihn mit geschlossenen Augen.«
»Was soll das heißen, mit geschlossenen Augen? Er schläft also?«
»Ich weiß nicht genau –«
Dwayne kam zurück. »Hier ist eine seiner Mützen«, sagte er. Es war eine einfache blaue Baseballkappe mit grünem Schirm und dem Logo der Hartford Whalers auf der Vorderseite.
Marcia öffnete die Faust und zeigte ihrem Mann den Scheck. »Was ist das?«
»Der gehört Justin. Hinten ist seine Unterschrift drauf«, sagte Dwayne wie zur Entschuldigung. »Keisha hat gesagt, sie braucht eine Handschriftenprobe. Ich wusste nicht, was ich sonst hätte nehmen sollen. Die jungen Leute heutzutage schreiben doch alles auf dem Computer.«
»Du hast ihm hinter meinem Rücken einen Scheck über zweihundert Dollar ausgestellt?«
»Marcia, das ist jetzt wirklich nicht der richtige Augenblick.«
»Lassen Sie mich sehen«, sagte Keisha und nahm Marcia den Scheck aus der Hand. Sie drehte ihn um und strich mit dem Zeigefinger mehrmals über die Unterschrift: Justin Wilcox. Wilcox war der Name von Justins Vater, Marcia Taggarts erstem Mann. »Kann ich den haben?«
Marcia riss ihn ihr gleich wieder aus der Hand und gab ihn ihr erst wieder, nachdem sie alles außer der Unterschrift abgerissen hatte. »Ich sehe keinen Sinn darin, Ihnen sämtliche Bankdaten meines Mannes zu geben.«
»Marcia, ich flehe dich an«, sagte Dwayne. »Musst du die Frau auch jetzt noch beleidigen, während sie versucht, uns zu helfen?«
»Schon gut«, sagte Keisha geduldig und nicht im mindesten pikiert. Sie steckte den Papierstreifen ein.
Marcia sah keinen Grund für eine Entschuldigung. Ungerührt fuhr sie fort: »Sie haben Justin also mit geschlossenen Augen gesehen. Was hat das zu bedeuten?«
Keisha antwortete nicht. Stattdessen nahm sie Dwayne Justins Mütze ab und ging damit langsam im Zimmer auf und ab.
»Was machen Sie da?«, fragte Marcia, doch Keisha antwortete auch diesmal nicht. Sie schien in eine Art Trance gefallen zu sein.
»Lass sie doch ihre Arbeit machen«, sagte Dwayne.
Keisha murmelte etwas Unverständliches. »Was haben Sie gesagt?«, fragte Marcia.
Keisha erhob eine Hand und ging weiter. Dann blieb sie unvermittelt stehen, wandte sich um und sah Marcia an. »Was sagt Ihnen
scarf
oder
scarfy
oder so was in der Art? Können Sie damit was anfangen?«
Marcia öffnete den Mund. »Was? Das sagt mir gar nichts. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden.«
Keisha tat so, als zerbräche sie sich den Kopf. »Könnte es
scar free
heißen? Wäre das möglich?
Ohne Narben?
Ich sehe eine Art Büro. Mit leeren Aktenschränken. Aber
scar free?
Das ergibt doch keinen Sinn. Ich sehe Justin noch immer mit geschlossenen Augen. Hat Justin irgendwelche Narben? Zeigen Sie mir noch mal sein Foto.«
Dwayne hatte ihr gleich bei ihrer Ankunft ein Bild seines Stiefsohns gezeigt. Das gerahmte Foto von Justins Abschlussfeier an der Highschool zeigte einen dünnen Jungen mit einem langen, hageren Gesicht. Dwayne wollte es gerade vom Kaminsims nehmen, um es Keisha noch einmal zu zeigen, da sagte Marcia: »Du meine Güte! Wie war das? Was haben Sie gesagt?
Scar free?
Damit kann ich durchaus etwas anfangen.«
Keisha hörte auf, die Mütze in ihrer Hand zu malträtieren. »Was?«
»Das war eine Klinik«, sagte Marcia leise.
»Eine Klinik?«
»Für Laserbehandlungen und solche Sachen.«
»Was könnte das mit Ihrem Sohn zu tun haben, Mrs. Taggart?«
»Das ist ein – ich besitze ein paar Immobilien«, sagte Marcia erregt. »Als Kapitalanlage. Büros und so, zum Vermieten. Ein paar habe ich an die Scar Free Clinic vermietet, in der Nähe von diesem Einkaufszentrum, der Post Mall.«
»Dann habe ich mich bestimmt geirrt«, sagte Keisha. »Ihr Sohn versteckt
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