Frankenstein
Sonne erheblich verkürzt waren; denn ich wagte mich nie bei Tageslicht hinaus, weil ich dieselbe Behandlung zu erfahren fürchtete wie damals in dem ersten Dorf, in das ich gekommen war.
Ich verbrachte meine Tage in gespannter Aufmerksamkeit, um die Sprache schneller beherrschen zu lernen. Und ich darf mich rühmen, daß ich schnellere Fortschritte machte als die Araberin, die sehr wenig verstand und nur gebrochen sprach, während ich fast jedes gesprochene Wort verstand und nachzuahmen versuchte.
Während ich im Sprechen Fortschritte machte, erlernte ich auch die Wissenschaft der Buchstaben, wie man sie die Fremde lehrte. Und diese öffnete mir ein weites Feld für staunendes Entzücken.
Das Buch, an Hand dessen Felix Safie unterrichtete, war Volneys ›Ruinen der großen Reiche‹. Ich hätte den Inhalt dieses Buches nicht verstanden, hätte Felix nicht beim Vorlesen alles bis ins einzelne erläutert. Er habe dieses Werk gewählt, sagte er, weil der deklamatorische Stil den orientalischen Autoren nachempfunden sei. Durch dieses Werk erhielt ich eine oberflächliche Kenntnis der Geschichte und einen Überblick über die Reiche, die derzeit auf der Welt existieren. Es gab mir einen Einblick in die Sitten, Regierungsformen und Religionen der verschiedenen Völker der Erde. Ich hörte von den trägen Asiaten, vom verblüffenden Genie und der geistigen Regsamkeit der Griechen, von den Kriegen und der bewunderungswürdigen Rechtschaffenheit der frühen Römer – von ihrer späteren Entartung – vom Niedergang jenes mächtigen Reiches; vom Rittertum, Christentum und von Königen. Ich hörte von der Entdeckung des amerikanischen Kontinents und weinte mit Safie über das traurige Schicksal seiner Ureinwohner.
Diese wunderbaren Schilderungen erfüllten mich mit seltsamen Empfindungen. War der Mensch wirklich zugleich so mächtig, so anständig und großartig, und doch so lasterhaft und gemein? Einmal erschien er mir als bloßer Sproß des Bösen und dann wieder als Inbegriff all dessen, was man sich nur edel und gottähnlich vorstellen kann. Ein großer und rechtschaffener Mensch zu sein, erschien mir als die größte Ehre, die einem fühlenden Wesen zuteil werden kann. Gemein und lasterhaft zu sein, wie es nach der historischen Überlieferung viele gewesen waren, erschien mir als die tiefste Entwürdigung, ein verächtlicherer Zustand als der des blinden Maulwurfs oder des harmlosen Wurms. Lange Zeit konnte ich mir nicht vorstellen, wie ein Mensch hingehen und seinen Mitmenschen ermorden könne, oder auch nur, weshalb es Gesetze und Regierungen gebe. Doch als ich Näheres über Lasterhaftigkeit und Blutvergießen hörte, ließ meine Verwunderung nach, und ich wandte mich mit Abscheu und Ekel ab.
Jedes Gespräch der Häusler eröffnete mir jetzt neue Wunder. Während ich den Belehrungen zuhörte, die Felix der Araberin erteilte, gewann ich Klarheit über das seltsame Wesen der menschlichen Gesellschaft. Ich hörte von der Verteilung des Besitzes, von ungeheurem Reichtum und schmutziger Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blut.
Diese Worte veranlaßten mich, über mich selbst nachzudenken. Ich erfuhr, die von deinen Mitmenschen am höchsten geschätzten Besitztümer seien eine hohe und unbefleckte Abkunft, mit Reichtum vereint. Ein Mensch mit nur einem dieser Vorzüge mochte noch geachtet werden, doch ohne einen von beiden galt er, außer in ganz seltenen Fällen, als Stromer und Sklave, dazu verurteilt, seine Kräfte zum Nutzen der wenigen Auserwählten zu verausgaben! Und was war ich? Von meiner Erschaffung und meinem Schöpfer hatte ich absolut keine Ahnung; doch ich wußte, daß ich kein Geld, keine Freunde, keinerlei Art von Besitz mein eigen nannte. Überdies steckte ich in einer gräßlich mißgebildeten und abstoßenden Gestalt. Ich war nicht einmal von derselben Art wie die Menschen. Ich war behender als sie und konnte von gröberer Nahrung leben. Ich ertrug extreme Hitze und Kälte mit weniger Schaden für meinen Körper. Meine Statur überragte die ihre bei weitem. Schaute ich mich um, sah und hörte ich nichts von einem wie mir. War ich also ein Ungeheuer, ein Schandfleck auf Erden, vor dem alle Menschen flohen und das alle Menschen verschmähten?
Ich kann dir die Qual nicht schildern, die diese Überlegungen in mir weckten: ich versuchte die Gedanken abzuwehren, doch mit dem Wissen wuchs das Leid nur noch mehr. Ach, wäre ich doch für immer in meinem heimatlichen Wald geblieben und hätte nichts gewußt
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