Frankenstein
Luft auf. Ich fühlte Regungen der Sanftmut und Freude, lange totgeglaubt, in mir aufleben. Halb überrascht von der Neuartigkeit dieser Empfindungen, ließ ich mich von ihnen hinreißen. Ich vergaß meine Einsamkeit und Mißgestalt und wagte es, Glück zu empfinden. Milde Tränen betauten wieder meine Wangen, und ich hob sogar die feuchten Augen in Dankbarkeit zur lieben Sonne empor, die mir solche Freude spendete.
Ich folgte weiter den gewundenen Pfaden, bis ich an den Waldrand gelangte, den ein tiefer und reißender Strom säumte. In diesen tauchten viele Bäume ihre Zweige, an denen der Frühling die Knospen schwellen ließ. Hier blieb ich stehen, denn ich wußte nicht genau, welchen Weg ich einschlagen sollte, als ich Stimmen hörte, die mich veranlaßten, mich in den Schatten einer Zypresse zu verkriechen. Kaum hatte ich mich versteckt, da kam ein kleines Mädchen lachend, als laufe sie mutwillig jemandem davon, auf die Stelle zugerannt, wo ich mich verborgen hielt. Sie lief am steil abfallenden Ufer des Flusses weiter, als sie plötzlich ausglitt und in den reißenden Strom fiel. Ich sprang aus meinem Versteck hervor. Und mit äußerster Mühe rettete ich sie aus der starken Strömung und zog sie ans Ufer. Sie war bewußtlos, und ich bemühte mich mit allen Mitteln, die in meiner Macht standen, sie zu sich zu bringen, als das plötzliche Nahen eines Bauern mich innehalten ließ, vermutlich die Person, vor der sie scherzhaft geflüchtet war. Als er mich sah, stürzte er sich auf mich, riß mir das Mädchen aus den Armen und rannte tiefer in den Wald. Ich lief ihm schleunigst nach, ich wußte nicht recht, warum. Doch als der Mann mich näherkommen sah, zielte er mit einem Gewehr, das er bei sich hatte, auf mich und schoß. Ich sank zu Boden, und mein Angreifer entkam mit noch größerer Schnelligkeit in den Wald.
Das war also der Lohn für meine Gutwilligkeit! Ich hatte einen Menschen vor dem Verderben gerettet, und zur Belohnung wand ich mich jetzt unter dem grausamen Schmerz einer Wunde, die Fleisch und Knochen zerrissen hatte. Die Gefühle der Güte und Sanftmut, die ich nur einige Augenblicke vorher genährt hatte, wichen höllischer Wut und Zähneknirschen. Von Schmerzen entflammt, schwor ich der gesamten Menschheit auf ewig Haß und Rache. Doch der quälende Schmerz der Wunde übermannte mich. Mein Puls stockte, und ich verlor das Bewußtsein.
Mehrere Wochen brachte ich jämmerlich im Wald zu und bemühte mich, die empfangene Wunde zu heilen. Die Kugel war mir in die Schulter gedrungen, und ich wußte nicht, ob sie steckengeblieben oder durchgeschlagen war. Jedenfalls verfügte ich über keine Möglichkeit, sie herauszuholen. Meine Leiden wurden noch gesteigert durch das bedrückende Bewußtsein, auf welch ungerechte, jeder Dankbarkeit hohnsprechende Weise sie mir zugefügt worden waren. Tag für Tag schwor ich Rache – tiefe und tödliche Rache, die allein die mir zugefügte schmähliche Gewalt und den erlittenen Schmerz aufzuwiegen vermochte.
Nach einigen Wochen war meine Wunde verheilt, und ich setzte meine Wanderung fort. Die Anstrengungen, die ich ertrug, ließen sich nicht mehr durch die helle Sonne oder die milden Frühlingsbrisen lindern. Alle Freude war nur ein Hohn, der meine trostlose Verfassung beleidigte und mich noch schmerzlicher empfinden ließ, daß ich nicht zum Genuß der Freude geschaffen war.
Doch meine Mühen näherten sich jetzt ihrem Ende. Zwei Monate danach erreichte ich die Vororte von Genf.
Es war Abend, als ich anlangte, und ich zog mich in einen Schlupfwinkel in den umgebenden Feldern zurück, um darüber nachzudenken, auf welche Weise ich mich an dich wenden sollte. Übermüdung und Hunger peinigten mich, und ich war viel zu unglücklich, um die sanfte Abendbrise zu genießen oder auch nur den Anblick, wie die Sonne hinter den gewaltigen Bergen des Jura unterging.
Um diese Zeit erlöste mich aus meinen schmerzlichen Überlegungen ein leichter Schlaf, den das Nahen eines schönen Knaben störte. Mit allem Übermut der Kindheit kam er in das von mir gewählte Versteck gerannt. Während ich ihn anstarrte, überkam mich mit einem Mal der Gedanke, dieses kleine Geschöpf sei unvoreingenommen und habe noch nicht lange genug gelebt, um sich ein Grauen vor Mißbildungen zu eigen gemacht zu haben. Wenn ich mich also seiner bemächtigen und ihn als meinen Gefährten und Freund aufziehen könnte, wäre ich nicht so einsam auf dieser bevölkerten Welt.
Von diesem Impuls
Weitere Kostenlose Bücher