Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
Naturgesetzen, gegen die Victor mit seinen hochmütigen Experimenten verstoßen hatte, Geltung zu verschaffen und, indem er seinen Schöpfer tötete, das zerrissene Gewebe der Welt zu flicken.
Nach einer weiten Reise, die ihn, nachdem er angenommen hatte, Victor sei im arktischen Eis gestorben, auf der Suche nach einem neuen Daseinszweck mehr als einmal um die Erde und durch zwei unruhige Jahrhunderte geführt hatte, stand Deucalion endlich kurz davor, seine Bestimmung zu erfüllen. Die Zerstörung der Neuen Rasse war bereits im Gange, herbeigeführt durch die endlosen Irrtümer ihres Schöpfers. Und bald würde Deucalion im Sturm der Anarchie und des Grauens, der jetzt über Louisiana hereinbrach, Victor Frankenstein zur Rechenschaft ziehen.
Jetzt drang ihm ein weiterer kindlicher Ausdruck des Kummers entgegen, und als er den nächsten Treppenabsatz erreichte, wurde er von einem Ruf begrüßt, der auf Verzweiflung hinwies. Die Rufe kamen aus diesem Stockwerk.
Er hatte den Verdacht, durch seine Handlungen in den bevorstehenden Stunden würde er sich die Erlösung von seinen Träumen verdienen, die in dem alten steinernen Haus spielten. Er holte tief Atem, zögerte, öffnete dann die Tür und trat aus dem Treppenschacht in den Flur.
Etwa ein Dutzend Angehörige der Neuen Rasse, männlich und weiblich, standen da und dort in dem breiten Flur. Ihre
Aufmerksamkeit war auf die offene Flügeltür eines Labors gerichtet, das rechts neben dem Flur lag und den Mittelpunkt des Gebäudes bildete.
Aus diesem Raum drang ein weiterer kläglicher Ruf, dann die Geräusche, mit denen etwas um sich schlug, und das Zersplittern von Glas.
Als Deucalion an einigen Leuten, die im Korridor standen, vorbeiging, schien niemand seine Anwesenheit wahrzunehmen, da die Krisensituation im Laboratorium alle in ihren Bann zog. Sie standen in diversen erwartungsvollen Posen da. Einige zitterten oder bebten sogar heftig vor Angst, manche murrten erbost, und andere schienen von einer seltsamen transzendentalen Ehrfurcht gepackt zu sein.
Durch die offenen Türen des Labors erschien im Korridor eine sechsbeinige Ausgeburt der Hölle.
32.
Im Moment macht ihm die Kälte nichts aus.
Das transparente polymere Gewebe des Sacks, der es gefangen hält, und die Glastür des Gefrierschranks stellen erstmals keine Folter für Chamäleon dar.
Das kürzlich eingetroffene ungewöhnliche, sehr emsige blaue Etwas, bei dem es sich nicht um eine Person handelt, läuft mit großer Energie im Labor auf und ab, auf und ab.
Dieser Besucher scheint es darauf abgesehen zu haben, eine neue Ordnung zu errichten. Er ist ein Erneuerer, der Veränderungsprozesse in Gang setzt.
Schränke kippen um. Stühle fliegen durch die Luft. Laborgeräte fallen kreuz und quer übereinander.
In seinem herabhängenden Sack mit Eispartikeln in der Flüssigkeit kann Chamäleon keine Stimmen hören. Allerdings übertragen sich die Vibrationen dieser lebhaften Neuanordnung durch die Wände und den Boden auf den Gefrierschrank und somit auch auf seinen Bewohner.
Die Lichter werden schwächer, leuchten heller, werden wieder dunkler, lassen noch mehr nach, werden dann aber noch einmal heller.
Der Motor des Gefrierschranks stottert und säuft ab. Der Ersatzmotor springt nicht an.
Chamäleon wartet auf das Muster der Vibrationen des Zweitmotors. Nichts. Nichts.
Dieser interessante und energiegeladene Besucher zieht einige Leute an sich heran, hebt sie hoch wie bei einem Zeremoniell, als wolle er sie in einen höheren Stand erheben, aber dann wirft er sie hin.
Sie bleiben liegen, wo sie hingefallen sind. Regungslos.
Andere Arbeiter scheinen sich dem emsigen Besucher aus eigenem Antrieb zu nähern. Sie scheinen ihn beinah zu umarmen.
Auch sie werden hochgehoben, und dann werden sie hingeworfen. Sie liegen ebenso regungslos da wie die anderen, die vor ihnen hingeworfen wurden.
Vielleicht haben sie sich dem emsigen Besucher demütig zu Füßen geworfen.
Sie könnten aber auch eingeschlafen sein. Oder tot.
Interessant.
Als sämtliche einst so emsige Arbeiter regungslos daliegen, reißt der Besucher die Wasserhähne aus einem Becken des Labors und wirft sie hin. Das Wasser strömt jetzt sturzbachartig aus den Rohren.
Das Wasser strömt in Kaskaden auf die Arbeiter, das Wasser strömt unablässig hinab, und doch stehen sie nicht auf.
Und bisher übertragen sich keine Vibrationen des Zweitmotors auf die Flüssigkeit in dem Sack.
Stille hat sich über den Sack herabgesenkt. Die
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