Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
Alptraum von dem alten steinernen Haus – mit seinem verfluchten Dachboden, auf dem etwas tickte und rasselte, klickte und klapperte, und mit dem Keller, in dem die Luft schon für sich allein genommen böse war – suchte Deucalion so oft heim, dass er mit absoluter Sicherheit wusste, was los war: Bei dem Traum musste es sich um bruchstückhafte Erinnerungen handeln, die der unfreiwillige Spender irgendwo in den Furchen und Windungen
seiner grauen Zellen zurückgelassen hatte. Und die Art dieser grausigen Erinnerungen gab einen klaren Hinweis auf den hassenswerten Ursprung des Gehirns.
Als er jetzt in dem Krankenhaus zu den dünnen, kindlichen Rufen des Elends hinaufstieg, hatte er das Gefühl, die Erdanziehungskraft hätte sich während des Aufstiegs verdoppelt, denn er trug nicht nur die Last dieses Moments, sondern auch die Last all dieser Träume und dessen, was sie mit Gewissheit zu bedeuten hatten.
Als er es in dem Alptraum endlich geschafft hatte, die Treppe zum Dachboden des Hauses hinaufzusteigen, hatte der flackernde Lichtschein einer Öllampe ihm den Ursprung des Klickens und Klapperns enthüllt. Das Unwetter, das draußen tobte, presste heftige Böen in den Raum dort oben, und diese brausenden Windstöße ließen die baumelnden Knochen aneinanderschlagen. Das Skelett war klein, die Knochen durch Schnüre miteinander verbunden, damit sie nicht in Unordnung gerieten, denn das Skelett hing an einem Haken, der in einen Dachbalken eingeschlagen worden war.
An dem Haken hing auch das Einzige, was sonst noch von dem Opfer übrig war: das lange goldblonde Haar, das von dem Schädel des Mädchens geschoren worden war. Knochen und Zöpfe. Vielleicht sollte man besser von Trophäen sprechen.
Aber all dieses Klicken und Klappern konnte nicht den Knochen eines einzigen Mädchens entstammen. Als er sich im Traum weiter in die Tiefen des Dachbodens vorgewagt hatte, war im Schein der Lampe ein grausiges Waisenhaus an den Tag gekommen: neun weitere baumelnde Skelette und dann, oh, dahinter nochmal zehn und anschließend weitere zehn. Dreißig kleine Mädchen, allesamt noch Kinder, in Form von Mobiles zur Schau gestellt, jedes mit seinem
eigenen Haar, das nicht am Schädel, sondern neben ihm hing, blondes, braunes oder rötliches Haar, glatt oder lockig, in einigen Fällen zu Zöpfen geflochten, in anderen nicht.
In Hunderten von Wiederholungen dieses Traums war er nur zweimal auf den Dachboden gelangt, bevor er, in Angstschweiß gebadet, erwacht war. Nie war er über den ersten Raum des Kellers hinausgelangt, ins Herz der Finsternis, und er hoffte, dass es niemals dazu kommen würde. Das Geräusch von Skeletten, die im Wind tanzten, lockte ihn auf den Dachboden, aber was ihn immer in den Keller des Hauses in seinem Traum zog, waren diese dünnen, quälenden Rufe. Es waren keine Schreie des Entsetzens und auch keine Schmerzensschreie, sondern sie klangen bekümmert, als hörte er nicht die Opfer, die noch am Leben waren, sondern ihre Geister, die sich nach der Welt sehnten, aus der sie vor ihrer Zeit herausgerissen worden waren.
Er hatte sich so lange geweigert, die Herkunft seines Gehirns anzuerkennen, aber er konnte sich nicht noch länger etwas vormachen. Sein zweites Herz stammte von einem Kinderschänder, der seine Opfer erst vergewaltigt und dann getötet hatte – und sein Gehirn stammte von demselben Spender. Der Mörder hatte mit den Mädchen getan, was er wollte, und dann hatte er im Keller das Fett ausgelassen, sie sorgsam entbeint und ihre zarten Skelette als Souvenirs aufbewahrt, und aus eben diesem Grund hatte die abgestandene Luft in diesem fensterlosen unteren Bereich des Hauses manchmal den Geruch von verdorbenem Nierenfett und zu anderen Zeiten den salzigen Geruch von Tränen.
Die Tatsache, dass er im Besitz des Gehirns eines Kinderschänders war, machte Deucalion nicht zum Kinderschänder. Dieser teuflische Verstand und diese verderbte Seele waren zum Zeitpunkt des Todes aus dem Gehirn gewichen und
hatten nichts anderes zurückgelassen als zirka drei Pfund makelloser Gehirnsubstanz, die Victor nach Absprache mit dem Henker gleich im Anschluss an die Hinrichtung konserviert hatte. Deucalions Bewusstsein gehörte einzig und allein ihm selbst, und seine Ursprünge lagen … anderswo. Ob sein Bewusstsein mit einer Seele einherging, konnte er nicht beurteilen. Aber er hatte keinen Zweifel daran, dass in jener Nacht vor langer Zeit sein Erscheinen mit einem Auftrag verbunden gewesen war: den
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